Auf der Spur der Dunklen Energie: Daniel Grün, Inhaber des Lehrstuhls für Astrophysik, Kosmologie und Künstliche Intelligenz, wertet die Bilder von Millionen von Galaxien mit statistischen Methoden aus, um Rückschlüsse auf unsichtbare Materie zu erhalten. Foto: Christoph Olesinski/LMU
Dreck auf der Linse ist das Letzte, was Astronomen brauchen können, schließlich macht so etwas jede Beobachtung zunichte. Ein bisschen Dreck vor der Linse, ein paar Hindernisse, die das Licht vom rechten Weg abbringen, sind hingegen genau das Richtige – jedenfalls, wenn es nach Daniel Grün geht.
Grün, seit Juli Inhaber des Lehrstuhls für Astrophysik, Kosmologie und Künstliche Intelligenz, will Dinge sehen, die bislang kein Mensch gesehen hat: Er sucht nach Spuren zweier Phänomene, die Physiker Dunkle Materie und Dunkle Energie nennen. Das eine hält die Galaxien zusammen, das andere treibt das Universum auseinander. Abgesehen von dieser holzschnittartigen Beschreibung haben sich die Eigenschaften der Dunklen Materie und Dunklen Energie bislang sehr erfolgreich einer physikalischen Beschreibung entzogen. Entsprechend ungewöhnlich sind die Hilfsmittel, zu denen Daniel Grün bei seiner Suche greift: eine unebene kosmische Fensterscheibe, Unmengen beobachteter Galaxien, ganz viel Statistik und immer mehr Künstliche Intelligenz.
„Die Kosmologie steckt in einer verzwickten Situation“, sagt Grün. „Wir verfügen zwar über ein sehr erfolgreiches Modell unseres Universums, das alle Beobachtungen treffend beschreibt. Zugleich wissen wir aber, dass dieses Modell falsch ist, dass es unvollständig ist.“ Dunkle Materie und Energie sind der Kern des Modells – aber mehr ist nicht bekannt darüber, was sie eigentlich sind. Die wirklichen, physikalischen Eigenschaften des „dunklen Universums” müssten ihre Spuren hinterlassen – im Modell und in der Realität.
Gravitationslinseneffekt heißt der Ansatz, mit dem Grün diese Spuren entdecken will. Genauer gesagt: schwacher Gravitationslinseneffekt. Er soll Indizien dafür liefern, was mit dem erfolgreichen, aber unerklärten Modell des Universums nicht stimmt. Dahinter steckt eine einfache Überlegung: Wann immer das Licht ferner Galaxien auf dem Weg Richtung Erde an riesigen Massen vorbeimuss – an anderen Galaxien, an Galaxienhaufen, an Schwarzen Löchern – lenkt deren Anziehungskraft die Lichtwellen leicht ab. Im Extremfall kann aus dem Bild einer fernen Galaxie sogar eine ringförmige Struktur werden – als würden Astronomen die Galaxie durch den Boden eines Glases beobachten.
Der Blick durch die kosmische Fensterscheibe
Der Effekt, auf den Grün setzt, ist subtiler. „Man kann sich den schwachen Gravitationslinseneffekt vorstellen wie den Blick durch eine nicht ganz glatte Fensterscheibe“, sagt der Physiker. Ist dieses Glas nicht perfekt eben, hat es leichte Wellen, dann erscheint die Welt dahinter ein bisschen verzerrt. Das gleiche gilt für den Blick ins Universum – nur mit dem Unterschied, dass die Unebenheiten der Scheibe durch die ungleich verteilte, nicht direkt sichtbare Materie ersetzt wird, die zwischen dem Beobachter und den fernen Galaxien sitzt und an den Lichtstrahlen zerrt.
„In gewisser Weise ist dieser Effekt allerdings besonders frustrierend“, sagt Daniel Grün. Das Problem: Das verzerrte Bild einer einzelnen Galaxie sagt nichts aus – genauso wenig wie das Bild eines Apfels in Nachbars Garten, der durch eine unebene Fensterscheibe erspäht wird. Erst der Vergleich mit einem ungestörten Bild des Apfels erlaubt Rückschlüsse, was mit der Scheibe nicht stimmt. Im Kosmos ist solch ein Vergleich allerdings nicht möglich: Es gibt nur dieses eine Universum und nur diese eine kosmische Fensterscheibe.
Astronomen müssen sich daher anderweitig helfen, zum Beispiel mit dem Studium vieler Galaxien: Lassen sich zwei dieser Strukturen – eine nah an der Erde, eine andere weit entfernt – am Himmel in der gleichen Richtung beobachten und sind die Bilder beider Galaxien leicht verzerrt, könnte das auf eine Unebenheit in der kosmischen Fensterscheibe hindeuten: auf eine unbekannte Masse zwischen den Galaxien und der Erde. Lediglich zwei schief liegende Galaxien erlauben allerdings noch keine belastbaren Aussagen. Dafür braucht es mehr. Viel mehr.
Über 300 Millionen Galaxien hat daher der Dark Energy Survey beobachtet, eine systematische Himmelsdurchmusterung, für die Grün bis vor kurzem den schwachen Gravitationslinseneffekt analysiert hat. Sechs Jahre lang suchte eine Kamera am chilenischen Cerro Tololo Inter-American Observatory etwa ein Achtel des Himmels ab. Das Ergebnis ist nicht nur eine beeindruckende Karte voller Galaxien, die bislang größte und tiefste Aufnahme des Himmels. Es ist auch die ideale Grundlage, um verzerrte Bilder all dieser Galaxien mit statistischen Methoden auszuwerten – und somit Rückschlüsse auf die unsichtbare Materie zu gewinnen.
Der Vergleich mit dem Babyfoto
Herausgekommen ist bei dieser Auswertung das, wie Grün es nennt, „bislang beste Bild der Materieverteilung im erwachsenen Universum“. Nur: Dieses Bild allein hilft bei der Suche nach den Dunklen Phänomenen und den Fehlern im kosmologischen Modell noch nicht weiter. Zum Glück findet sich aber auch ein Babyfoto der Materieverteilung. Es entstand etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall, hat sich in den Kosmos eingebrannt und erreicht die Erde heute aus allen Richtungen. Forschende nennen es daher kosmische Hintergrundstrahlung.
Die Frage, die Daniel Grün umtreibt, lautet nun: Passen diese beiden Aufnahmen zusammen? Wird aus dem Babybild, nimmt man die aktuellen Modelle der Kosmologie, zwangsläufig das Bild des erwachsenen Universums? Oder finden sich irgendwelche Abweichungen, irgendwelche Unregelmäßigkeiten, die auf die Eigenschaften der Dunklen Effekte hindeuten könnten?
Die Antwort ist uneindeutig. „Analysen zeigen, dass die heutige Struktur ein bisschen weniger stark ausgeprägt ist, als wir es erwarten würden“, sagt Grün. Allerdings nur ein bisschen. Daniel Grün vergleicht das Dilemma mit einem Baby, das Basketballergene hat und Prognosen zufolge 2,10 Meter groß werden sollte. Einmal ausgewachsen, sind es dann aber doch nur 1,98 Meter. Immer noch ein Basketballer, aber: Steckt hinter den fehlenden Zentimetern nur eine statistische Schwankung oder ein unverstandener Effekt? „Es gibt bislang leider keine einfache, keine elegante Antwort, von der man sagen könnte: Das erklärt alles“, sagt Daniel Grün.
Deshalb geht die Suche weiter. Mit neuen Teleskopen, aber auch mit neuen Ideen, mit neuen Methoden. 5.000 Galaxien auf einmal kann zum Beispiel das Dark Energy Spectroscopic Instrument (DESI) aufnehmen, mit dem Grün seit Neuestem arbeitet. Und nicht nur das: Die Kamera, installiert am Kitt Peak Observatory in Arizona, erstellt zudem Fingerabdrücke des Lichts der einzelnen Galaxien. Mit deren Hilfe können die Physiker berechnen, wie weit die Strukturen entfernt sind. Eine dreidimensionale Karte des Universums hinter seiner kosmischen Fensterscheibe entsteht. Sie könnte deutlich genauere Statistiken zur Verteilung der Materie möglich machen.
Der Legacy Survey of Space and Time, eine Himmelsdurchmusterung am neuen Vera C. Rubin Observatory in Chile, und das europäische Weltraumteleskop Euclid wählen einen anderen Ansatz: Sie wollen noch tiefer ins All schauen und Milliarden von Galaxien auf ihren Karten verzeichnen. Die Hoffnung: mehr Galaxien, mehr verzerrte Bilder, bessere Ergebnisse.
Algorithmen ordnen Galaxien in Gruppen
„Das ist die eine Seite, das sind die Daten“, sagt Daniel Grün. „Wir müssen aber auch auf der Seite der Methoden besser werden.“ Wenn Forschende nach winzigen Effekten suchen, nach unscheinbaren Indizien für eine ungewöhnliche Verteilung der Materie, dürfen sie keine systematischen Fehler machen. Sie müssen sich zudem neuer, bislang ungenutzter statistischer Kniffe bedienen. Und sie müssen all das bestmöglich verstehen. „Auch wenn viel Arbeit in den Bau neuer Instrumente fließt, sollten wir mindestens so viel Energie in die Analyse und das Verständnis der Daten stecken“, sagt Grün. „Das ist essentiell.“
Künstliche Intelligenz, kurz KI, soll dabei einen wichtigen Beitrag liefern, weshalb Grüns Lehrstuhl auch im Rahmen der bayerischen KI-Initiative eingerichtet worden ist. Beim Gravitationslinseneffekt hilft allerdings nicht die Künstliche Intelligenz, die jeder kennt – zum Beispiel von der automatischen Bilderkennung im Handy: Dort sind Algorithmen mit ganz vielen Beispielbildern darauf trainiert, bei einem für sie unbekannten Foto zu entscheiden, ob darauf etwa ein Hund oder eine Katze zu sehen ist.
Die Kosmologie hingegen hat ein anderes Problem: Sie hat ganz viele Daten, in denen einzeln fast nichts zu erkennen ist – Aufnahmen winziger Galaxien, die für sich genommen keine Aussagekraft haben. Und sie muss dann entscheiden, ob diese charakteristisch verzerrt sind oder nicht. „Im Grunde haben wir 100 Millionen klitzekleine Bilder, auf denen man nicht erkennt, ob das jetzt ein Hund oder eine Katze ist. Und wir wollen dann wissen, ob ein paar mehr Hunde oder mehr Katzen zu sehen sind“, sagt Grün.
Mit den Computern der Münchner Universitätssternwarte will der Physiker, der zuletzt sechs Jahre im kalifornischen Stanford geforscht hat, aber noch mehr versuchen: Die Analyse hunderter Millionen Galaxien stellt selbst die besten Rechensysteme vor eine fast unlösbare Herausforderung. Um vernünftig mit solchen Datenmengen rechnen zu können, müssen sie daher in handliche Pakete unterteilt und von Modellen beschrieben werden. Hier kommt die KI ins Spiel, die jede Galaxie anhand ihres Aussehens in eine von vielen unterschiedlichen Gruppen packen soll, die dann analysiert werden können.
Intelligente Algorithmen sollen Galaxien aber nicht nur erkennen und kategorisieren. Sie sollen auch selbst Modelle entwickeln – zum Beispiel dazu, wie die Materie im Universum verteilt ist und wie sich die Galaxien entwickelt haben. Die Ergebnisse aus dem Computer können anschließend mit realen Beobachtungsdaten verglichen werden.
Es ist eine neue Art der Kosmologie – ein Paradigmenwechsel, den andere Disziplinen wie die Teilchenphysik längst hinter sich haben. Vorbei sind die Zeiten als ein Astronom oder eine Astronomin einsam durchs Teleskop blickte und neue Objekte entdeckte. Stattdessen dominieren große Maschinen, internationale Kollaborationen und Daten, Daten, Daten.
Für die Forschenden heißt das: Sie müssen mit ihren Methoden und Analysen der exponentiell anschwellenden Datenflut immer etwas voraus zu sein. Nicht zu weit, sonst wäre das verlorene Liebesmüh‘, aber auch nicht zu knapp, sonst überrollt sie die Welle und die Daten wären nutzlos. Immer öfter hilft dabei der Computer. „Wir sind nun erstmals an dem Punkt angelangt, wo KI ganz im Kern solcher kosmologischen Analysen steht“, sagt Daniel Grün. „Wir sind an dem Punkt, wo nichts mehr geht ohne Künstliche Intelligenz.“
Alexander Stirn
Prof. Dr. Daniel Grün
ist Inhaber des Lehrstuhls für Astrophysik, Kosmologie und Künstliche Intelligenz an der LMU und arbeitet an der Universitätssternwarte. Grün, Jahrgang 19XX, studierte Physik an der LMU und wurde auch dort promoviert. Er war Postdoktorand an der Stanford University, USA und leitete als Panofsky Fellow eine Nachwuchsgruppe am SLAC National Accelerator Laboratory und dem Kavli Institute for Particle Astrophysics and Cosmology (KIPAC), Menlo Park, USA, bevor er im Sommer 2021 zurück an die LMU kam.
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