Langer Atem
Olivia Merkel forscht seit dem Beginn ihrer Karriere an Methoden, therapeutische RNA-Abschnitte zielgenau zum Wirkort in der Lunge zu transportieren.

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Andere haben ihre Arbeit an Gene Delivery aufgegeben, Olivia Merkel hat lange Durststrecken in Kauf genommen. „Ich habe mich nicht beirren lassen und einfach weitergemacht.“ Heute geben ihr die Ergebnisse recht und sie ist froh, „dass ich immer so stur geblieben bin“. Foto: Florian Generotzky

Einatmen, ausatmen. So weit, so gewöhnlich. Jeder von uns tut es ungefähr 23.000-mal am Tag. Bei jedem Atemzug strömen etwa zwei bis drei Liter Luft in unsere Lunge durch die Bronchien bis in die allerkleinsten Lungenbläschen hinein. Das Organ kommt daher ständig mit Krankheitserregern, Chemikalien oder Schadstoffen aus der Umgebungsluft in Kontakt. Kein Wunder also, dass Atemwegserkrankungen eine hohe Krankheitslast darstellen.

Weltweit leiden über eine Milliarde Menschen an akuten oder chronischen Atemwegserkrankungen wie Asthma, chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD), zystischer Fibrose und Lungenkrebs. Seit dem Beginn der Pandemie hat zudem die Zahl der Lungenfunktionsstörungen deutlich zugenommen. Neue Therapien, möglichst schonend und ohne Nebenwirkungen, werden dringend benötigt. Der große Vorteil der Lungen ist: Medikamente können eingeatmet werden und somit direkt an ihren Wirkort gelangen. Ein Umweg über das Blut ist nicht notwendig.Genau daran forscht Olivia Merkel, Professorin für Drug Delivery im Department Pharmazie der LMU. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, neue Nano-Transportsysteme für Medikamente gegen Lungenerkrankungen zu entwickeln.

Seit zwanzig Jahren forscht Merkel bereits an Gene Delivery, was man sehr frei mit Gen-Lieferung übersetzen kann. Es geht bei dieser Methode darum, wie man Gene oder zumindest kurze Erbgut-Schnipsel, die als Medikament wirken können, am besten an ihren Einsatzort bringt – also in die kranken Zellen hinein. „Lange Zeit wurde meine Arbeit belächelt und galt als zu fern von Anwendungen“, erinnert sie sich. An Fördergelder zu kommen verlangte viel Ausdauer. „Heute erlebt das Thema einen regelrechten Boom – nicht zuletzt, weil auch die Corona-Impfung mithilfe von mRNAs auf diesem Prinzip basiert.“

Gene Delivery war schon früher mal ein heißes Thema

Schon diese beiden Eckpunkte zeigen, wie stark das Interesse an Gene Delivery über die Zeit schwankte. Als beispielsweise im April 2003 das komplette menschliche Genom entschlüsselt wurde, studierte Olivia Merkel noch Pharmazie in Marburg. Gene Delivery war zu dieser Zeit an Universitäten, privaten Forschungsinstituten und in der Industrie ein heißes Thema. „Damals dachte man, dass jetzt jede Krankheit heilbar sei“, erinnert sich Merkel.

Die Idee dahinter ist schnell erklärt: Zahlreiche Krankheiten sind auf Mutationen in bestimmten Genen zurückzuführen. Wenn man diese mutierten Gene stilllegen könnte, wäre auch die Krankheit geheilt. Dazu muss man sogenannte short interfering RNAs (siRNAs) in die Zellen einschleusen, die verhindern, dass das betreffende Gen in ein Protein übersetzt werden und Schaden anrichten kann. Es hat auch gleich mehrere Vorteile, Medikamente direkt am Wirkort zu verabreichen, anstatt sie zum Beispiel zu spritzen: Die benötigte Dosis ist niedriger, die Nebenwirkungen geringer, systemische Effekte lassen sich vermeiden.

Merkel ist von dieser Idee und ihren Möglichkeiten fasziniert. Doch als sie zum ersten Mal „siRNA Delivery“ in das Suchfeld einer großen Datenbank aller publizierten Fachartikel aus dem Bereich Biomedizin eingibt, erhält sie mickrige 12 Treffer. „Es gab damals nur sehr wenig Forschung auf diesem Gebiet“, erzählt Merkel. Die schnellen Erfolge blieben zunächst aus. Das erste und bis heute eines von nur fünf zugelassenen siRNA-Medikamenten hatte eine Entwicklungszeit von 16 Jahren und verschlang 2,5 Milliarden US-Dollar. Schon nach wenigen Jahren gaben viele Firmen auf, Forschungsprojekte wurden eingestampft, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchten sich andere Aufgaben. „Ich habe mich nicht beirren lassen und einfach weitergemacht“, erzählt Olivia Merkel lachend.

Probleme gab es dabei für sie genug zu überwinden. Damit die siRNAs solche krankheitsauslösenden Gene stilllegen können, müssen sie zunächst in die erkrankten Zellen aufgenommen werden. Besonders leicht geht das in der Leber, denn in diesem Entgiftungsorgan landet am Ende alles, was der Körper aufnimmt. Alle bisher zugelassenen siRNA-Medikamente haben daher auch die Leber als Ziel. „Ich fand das zu einseitig und habe mich stattdessen schnell auf die Lunge konzentriert“, erklärt Merkel.


Die Flucht vor der zelleigenen Müllabfuhr

Denn auch die Lungenzellen sind dank ihrer riesigen Oberfläche von etwa 100 Quadratmetern im Prinzip gut für Medikamente erreichbar. Doch reine siRNAs können nicht an die Zellen binden oder gar von ihnen aufgenommen werden. Dafür müssen sie zunächst in andere Materialien eingebettet werden. Durch diese Verpackung aus Lipiden, Polymeren oder anderen Molekülen entstehen Nanopartikel, die von den Zellen mittels Endozytose aufgenommen werden können. Die Optimierung dieser Verpackung, quasi der Bau eines besonders effizienten Medikamenten-Shuttles, ist das Zentrum von Olivia Merkels Arbeit. Wenn die siRNA-Nanopartikel von den Zellen aufgenommen worden sind, sind sie zunächst im sogenannten Endosom gefangen, umgeben von einer stabilen, undurchlässigen Membran. Die Zelle erkennt die Nanopartikel als Fremdstoffe und hat keine besonders erfreulichen Pläne dafür: Sie sollen von der zelleigenen Müllabfuhr entsorgt werden. Damit das nicht passiert, müssen die Nanopartikel auch noch über einen Bestandteil verfügen, der ihnen dabei hilft, das Endosom wieder zu verlassen. Erst dann befinden sie sich im Zytoplasma, wo sie aktiv werden und zur Heilung beitragen können.

„Heute erlebt das Thema Gene Delivery einen regelrechten Boom – nicht zuletzt, weil auch die Corona-Impfung mithilfe von mRNAs auf diesem Prinzip basiert.“

Merkel erforschte, wie es gelingen könnte, siRNAs in die T-Zellen des Immunsystems einzubringen, die zum Beispiel bei Asthma-Patienten in der Lunge übermäßig aktiv sind. Tatsächlich fand sie eine neue Schleuse: Ein Rezeptor, der normalerweise Eisen in die Zellen transportiert, kann auch siRNA-Nanopartikel in die T-Zellen einschleusen. Der Clou dabei: Aktivierte T-Zellen stellen mehr von diesen Rezeptoren her als inaktive. Es ist also möglich, die inaktiven T-Zellen zu schonen und eine generelle Immunsuppression zu vermeiden. Die Therapie ist besonders spezifisch, systemische Nebenwirkungen, wie eine komplette Herunterregulierung des Immunsystems, werden vermieden. Mit diesen vielversprechenden Ergebnissen im Gepäck zog sie nach Detroit und forschte fortan als Tenure-Track-Professorin an der Wayne State University. Es sollten die härtesten Jahre ihrer Karriere werden. Der Kampf um Fördergelder in den USA ist bis heute unerbittlich. Sie konkurrierte mit Arbeitsgruppen, die viel größer und bekannter waren als ihre eigene, und ging immer wieder leer aus. „Das war eine lange Durststrecke“, erinnert sich Merkel. Und schiebt hinterher: „Aber ich bin froh, dass ich immer so stur geblieben bin.“

Lieber das Land gewechselt als das Forschungsthema

Anstatt ihr Forschungsgebiet zu wechseln, wechselte sie lieber wieder das Land. Denn während die Amerikaner ihrem Vorhaben skeptisch gegenüberstanden, signalisierte Europa Interesse. Die junge Pharmazeutin schaffte es, für ihre Forschungsidee einen der begehrten ERC Starting Grants an Land zu ziehen. Mit diesen Fördermitteln des Europäischen Forschungsrates in der Hinterhand ging sie ins Gespräch mit mehreren Universitäten in Europa – und wurde von der LMU mit offenen Armen empfangen. Seitdem arbeitet sie als Professorin für Drug Delivery im Department Pharmazie; seit Ende vergangenen Jahres ist sie Lehrstuhlinhaberin. Während der Pandemie richtete sich der Fokus ihrer Forschung vermehrt auf die Prävention und Therapie von Sars-Cov-2. Sie konnte zeigen, dass siRNA-Nanopartikel auch dazu beitragen können, die Virusreplikation in der Lunge zu verlangsamen und Symptome zu mildern. Ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Entwicklung einer Trockenpulver-Plattformtechnologie für den gezielten Transport von siRNAs in der Lunge. Olivia Merkel ist es gelungen, RNA-Nanocarrier dafür zu entwickeln, die sich mit einem Sprühtrocknungsverfahren stabilisieren lassen; dabei entsteht ein Trockenpulver, das sich bei Raumtemperatur längere Zeit hält. Vom Europäischen Forschungsrat (ERC) bekam sie im vergangenen Jahr einen kleineren sogenannten Proof of Concept Grant. Diese Förderung soll sie dabei unterstützen, Ergebnisse aus der Forschung in die Praxis zu überführen. Wie lässt sich die Sprühtrocknung so verbessern, lautet die anwendungsorientierte Fragestellung, dass sich das Trockenpulver generell gut transportieren und lagern lässt? Ganz abgesehen von solchen Fragen der Haltbarkeit: Das Design der Nanocarrier ist mitunter ein mühseliges Geschäft. Bisher wurden die Polymer-Materialien für die Nanopartikel in riesigen Bibliotheken synthetisiert und anschließend getestet. „Das ist unglaublich aufwendig und am Ende findet man heraus, dass vielleicht eines von eintausend Materialien funktioniert“, erklärt Merkel die Strategie – zumindest in weiten Teilen beruht das Verfahren auf Versuch und Irrtum. Sie möchte den Entwicklungsprozess schneller und günstiger machen. „Denn wenn man bereits einige Kriterien kennt, die das Polymer-Material erfüllen soll, zum Beispiel die Löslichkeit in Wasser oder die Größe der Partikel, dann könnte ein Algorithmus berechnen, wie die optimalen Moleküle aussehen sollen“, sagt die Pharmazeutin. Dafür kombinierte sie erstmals Simulationen der Molekulardynamik und Methoden des maschinellen Lernens. Sie synthetisiert bestimmte Polymere, die mit siRNAs beladen und mit verschiedenen Methoden hinsichtlich ihrer Eignung und Wirksamkeit getestet und analysiert werden, skizziert Merkel das Forschungsprogramm. Mithilfe dieser Ergebnisse will sie ein Modell entwickeln, das die Eignung verbesserter Polymere als effiziente siRNA-Nanocarrier vorhersagen und so den experimentellen Aufwand verringern kann. Unlängst hat ihr der Europäische Forschungsrat einen weiteren seiner hochdotierten Grants für dieses Projekt zugesprochen.

Sie hofft, dass sie in den nächsten fünf Jahren eine klinische Studie mit ihren neuartigen Nanopartikeln starten kann. Denn erst wenn Patientinnen und Patienten von besseren Medikamenten profitieren, so sagt sie, hat sich ihre Hartnäckigkeit wirklich gelohnt.

Claudia Doyle

Prof. Dr. Olivia Merkel
ist Inhaberin des Lehrstuhls für Drug Delivery am Department für Pharmazie der LMU. Merkel, Jahrgang 1981, studierte Pharmazie an der Universität Marburg, wo sie auch promoviert wurde. Als Postdoc arbeitete sie zunächst noch in Marburg und ging anschließend als Tenure-Track-Professorin an die Wayne State University in Detroit, USA. Seit Oktober 2015 ist sie Professorin an der LMU, seit November 2022 Lehrstuhlinhaberin. Im Januar dieses Jahres zeichnete sie der Europäische Forschungsrat mit einem hochdotierten Consolidator Grant aus. Es ist bereits der dritte ERC Grant in ihrer Karriere.

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