Sie forschen zu „Bahnhöfen in der Literatur“. Was ist denn Ihr Lieblingsbahnhof?
Dirscherl: Vor meiner Zeit in München habe ich einige Jahre an verschiedenen Universitäten in England verbracht und von dort zwei Lieblingsbahnhöfe mitgebracht: Früher war es Liverpool Street, heute ist es Paddington. In Großbritannien kann man das Fahrrad kostenlos im Zug mitnehmen, was ich sehr schätze. In Paddington – einem klassischen Kopfbahnhof – treffen sich mehrere U-Bahn-Linien, und man kann fast bis in die Bahnhofshalle radeln. An Gleis 1 kommt man dann an der Bronzestatue von Paddington Bear vorbei, der auf einem Koffer sitzt.
A Bear Called Paddington ist ein Kinderbuch von Michael Bond, das ja bekanntlich auch Queen Elizabeth sehr geliebt hat. Aber das Buch hat einen sehr ernsten Hintergrund. Was hat es damit auf sich?
Dirscherl: Inspiriert wurde Michael Bond von den Kindertransporten, mit denen jüdische Kinder vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ins britische Exil gerettet wurden. Und das führt schon mitten in die Thematik: Spricht diesen Bären, der da mit Koffer im Bahnhof sitzt, jemand an und nimmt ihn mit? Das ist die Frage. Die Geschichte von Paddington Bear, diesem Bären „from darkest Peru“, erzählt vor allem davon, wie wir Fremden begegnen.
Im positiven wie im negativen Sinne, oder? Schienen stehen spätestens seit Stanisław Muchas emblematischem Foto des Torhauses von Auschwitz-Birkenau auch für Deportation und die Shoah.
Dirscherl: In der Tat, Bahnhöfe stehen auch für eine Abfahrt ohne Wiederkehr. Muchas Foto, das ja „nur“ die Zufahrtsgleise und das Torhaus abbildet, „zeigt“ – gerade weil es nichts als diese gespenstische Leere zeigt – eben auch die Abwesenheit all der Menschen, die im Vernichtungslager ermordet wurden. Der auf dem Foto abgebildete Platz ist der Schauplatz von Tadeusz Borowskis Erzählung Bitte, die Herrschaften zum Gas: „Es ist eine idyllische Rampe, wie man sie von abgelegenen Provinzbahnhöfen kennt. Ein kleiner kiesbestreuter Platz, eingerahmt vom Grün hoher Bäume. (…) Von hier wird alles nach Birkenau gebracht: Material zum Ausbau des Lagers und Menschen für das Gas.“
Idyllisch ist doch auch das Foto nicht.
Dirscherl: Von Idylle kann weder beim Photo noch bei der Erzählung die Rede sein! Die Erzählung lässt sich auch eher als Gegenstück zum Foto lesen: Sie verleiht jenen Menschen eine Gestalt, die auf dem Foto nicht abgebildet sind. Und sie schildert die Grausamkeiten, die das Foto gerade nicht zeigt. Die Bahnhöfe kommen indirekt auch im Drama Die Ermittlung zur Sprache, in dem Peter Weiss die Auschwitz-Prozesse thematisiert. Da fragt ein Richter einen Zeugen: „Hatten Sie in den Lagern zu tun?“ Und der antwortet: „Nein. Ich hatte nur dafür zu sorgen, dass die Betriebsstrecken in Ordnung waren und dass die Züge fahrplanmäßig ein- und ausliefen.“
Der Bahnhof als Sehnsuchtsort
Eine Metapher für die Shoah – das ist ja nicht das, was wir landläufig mit Bahnhöfen verbinden. Meistens versprechen sie doch Abenteuer und Aufbruch ins Ungewisse. Wie kann das zusammenpassen?
Dirscherl: Bahnhöfe sind in der Tat immer auch Sehnsuchtsorte. Genau diesen Widerspruch spitzt Imre Kértesz in seinem Roman eines Schicksallosen zu. Da sieht der Erzähler durch das kleine Fenster des Viehwagons das Bahnhofsschild „Auschwitz-Birkenau“ – er betrachtet den Namen nicht ohne die Neugier eines Reisenden, wohingegen der Leser sofort das weitere grauenhafte Schicksal der Zuginsassen begriffen hat. Bahnhöfe waren, seit sie gegen Mitte des 19. Jahrhunderts überall entstanden sind, immer auch eine Verheißung von Freiheit.
Und wie schlägt sich das in der Literatur nieder?
Dirscherl: Zum Beispiel in Theodor Fontanes Roman Effi Briest. Da sieht die gleichnamige Titelheldin – gefangen in der bürgerlichen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts und obendrein in der Provinz – gemeinsam mit ihrem frisch angetrauten Ehemann dem Schnellzug nach Danzig nach: „Möchtest du mit, Effi?“, fragt er. „Sie sagte nichts. Als er aber zu ihr hinüberblickte, sah er, dass eine Träne in ihrem Auge stand.“ In diesem Moment begreift Effi, „was ihr fehlte“, nämlich genau diese Freiheit.
„Bahnhöfe haben vor allem unsere Vorstellung von Raum und Zeit völlig neu definiert.“
In Ihrer Antwort schwingt ein Aber mit …
Dirscherl: In der Tat ist dieses Freiheitsversprechen nicht immer ungebrochen. Bahnhöfe markieren oft auch Kipppunkte im Leben, denn sie zwingen uns eine Entscheidung auf: einsteigen oder draußen bleiben? Wegfahren oder dableiben? Durch Beantwortung dieser Fragen entscheiden sich die Lebenswege von Figuren, manchmal mit beglückenden, manchmal mit verheerenden Konsequenzen. Und es gibt auch Fälle, in denen – zumindest bis etwas Unverhofftes passiert – gar nichts beantwortet und entschieden wird. Christa Wolf hat das exemplarisch in ihrer Erzählung Der geteilte Himmel durchgespielt. Kurz vor dem Mauerbau kauft Rita, die Protagonistin der Erzählung, eine Hin- und Rückfahrkarte nach West-Berlin: „Darin also unterschied diese Stadt sich von allen anderen Städten der Welt: Für vierzig Pfennig hielt sie zwei verschiedene Leben in der Hand.“
Die Demokratisierung des Reisens
Die Erfindung der Eisenbahn als öffentliches Transportmittel 1825 in England hat das Zeitalter der Postkutsche beendet und die Welt revolutioniert. Die Erschließung Nordamerikas wie auch Sibiriens wäre ohne Eisenbahn nicht denkbar gewesen. Welche Bedeutung hat der Bahnhof für die Moderne?
Dirscherl: Die Eisenbahn hat einerseits unsere Naturwahrnehmung vollkommen verändert und andererseits das Reisen demokratisiert. Reisen mit der Postkutsche war immer ein Privileg. Und auf einmal sitzt die dritte Klasse im Zug und überholt die Reichen in der Kutsche. Mit der Erfindung des Autos allerdings kehrt die Kutsche, das Reisen im eigenen Fahrzeug als Ausdruck individueller Freiheit, zurück. Bahnhöfe hingegen ermöglichen, jenseits der Freiheit, die sie verheißen, auch Begegnungen. Vor allem aber hat die Eisenbahn unsere Vorstellung von Raum und Zeit völlig neu definiert. Heinrich Heine schreibt, „sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“ Walter Benjamin sieht das ganz ähnlich, für ihn beginnt der Strand – jedenfalls für den, der zu einer Reise aufbricht – schon am Bahnhof, „als wenn wir die Fahrt schon hinter uns hätten“.
Sind deswegen Bahnhöfe für die Literatur so interessant, weil sie moderne Kreuzungspunkte darstellen?
Dirscherl: In Bahnhöfen kommen die unterschiedlichsten Leute zusammen, und Geschichten nehmen dort ihren Anfang oder ihr Ende. Weil es dort ja bis heute verschiedene Klassen von Reisenden gibt, sind sie auch Spiegel der jeweiligen Gesellschaft bis hin zu Macht- und Klassenkampf. US-Präsident Biden mag vor allem aus Sicherheitsgründen mit dem Zug nach Kiew zu Präsident Selenskyi gefahren sein. Doch hatte nicht nur der Besuch selbst, sondern auch die Bahnfahrt Symbolcharakter.
Bahnhöfe sind oft auch hoch umstritten, Stuttgart 21 ist so ein Beispiel. Warum arbeiten sich so viele Menschen an Bahnhöfen ab?
Dirscherl: Bahnhöfe sind eben ganz besondere Orte. Gerade auch die, die gar nicht abreisen, sondern etwa auf einen Reisenden dort warten, sind empfänglich für ihre Atmosphäre. Vielleicht sind sie so etwas wie Kathedralen aus Eisen und Glas – licht, hell, transparent, offen und gleichzeitig doch auch Ziel- und Ruhepunkt. Sie sind Räume voll unendlicher Möglichkeiten, Räume zum Träumen. Sie konnten gar nicht aus Stein allein errichtet werden, das hätte die Konstruktion der Gleishalle nicht getragen. „The only way of catching a train […] is to miss the train before”, schreibt G.K. Chesterton einmal. „Do this, and you will find in a railway station much of the quietude and consolation of a cathedral.”
Transparent, aber doch anonym …
Dirscherl: Bahnhöfe sind gleichermaßen faszinierend für Reisende wie für Flaneure. Abgesehen davon, dass sie vielleicht die Kathedralen der Moderne sind, sind sie auch immer Theater, auf deren Bühnen, Gleis für Gleis, existenzielle Fragen szenisch ausgetragen und exemplarisch verhandelt werden. Da gibt es laufend wechselnde Hauptdarsteller und jede Menge Zuschauer, mitunter gerät einer der Protagonisten ins Stocken und schließlich aus dem Gleichgewicht, verschwindet von der Bühne und findet sich unter den Zuschauern wieder. Wolfgang Hilbig erzählt in seinem Roman Das Provisorium die Geschichte eines DDR-Schriftstellers, der für ein Jahr ausreisen darf und weder im Westen richtig ankommt, noch in den Osten zurückkehrt; er bleibt am Münchner Bahnhof hängen: „Er kam immer nur bis zu dem Kiosk vor den Bahnsteigen. Wenn alle Züge verpasst waren, wurde es Zeit, zu seinem Schlafplatz aufzubrechen, mit einer neuen Flasche Wodka.“
Interview: Maximilian Burkhart
Dr. Margit Dirscherl ist Akademische Rätin am Institut für Deutsche Philologie der LMU. Im vergangenen Wintersemester war sie Junior Researcher in Residence am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU.
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