Imperiales Mindset
Seit mehr als einem Jahr fragt sich die Welt, warum Putins Russland seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt. Das Entsetzen sitzt tief, und schon angesichts der Gräuel sind plausible Erklärungen schwer zu finden. Zu irritierend ist die mit Hass, Mythen und Obsessionen aufgeladene Propagandaschlacht, mit der sich die Aggressoren ins Recht zu setzen versuchen. Martin Schulze Wessel, Osteuropahistoriker an der LMU, sucht die Erklärung für Putins Politik denn auch nicht in der gegenwartszentrierten Sicht auf eine Logik des Machterhalts. Russland stehe, so sagt Schulze Wessel, heute nicht nur „im Banne eines Diktators“, sondern auch einer – weithin unbewältigten und im Westen unverstandenen – imperialen Tradition aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Schulze Wessel spricht von einem „Fluch des Imperiums“ und so nennt er auch sein Buch. Er zeichnet darin drei Jahrhunderte russischer Geschichte nach – die Geschichte einer fatalen Kontinuität. Als eine solche „Pfadabhängigkeit“ möchte der Historiker das Wort „Fluch“ auch verstanden wissen. Die allmähliche Entwicklung zu einer imperialen Politik beginnt für Schulze Wessel mit der Herrschaft des Zaren Peter I. und dessen Expansionspolitik und Großmachtstreben. Dieser Prozess hat sich verselbständigt und eine Kultur geschaffen, in dem sich eine Nation nur noch als imperiale Nation denken lässt. In diesem imperialen Mindset ist es völlig selbstverständlich, dass die Ukraine dazugehört – und kein eigenständiges historisches Subjekt sein kann. Daraus speist sich Putins Retroprojekt, Russland wieder groß zu machen.
Schulze Wessel erzählt von den engen Verkettungen der Geschichte Russlands mit der Polens und der Ukraine, von Annexionen und Teilungen, von Zweckbündnissen und Interessenkongruenzen mit Preußen und Habsburg und einem schon seit dem 19. Jahrhundert währenden ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt. Und indem Martin Schulze Wessel die historischen Entwicklungen um „die Ukraine, Polen und den Irrweg in der russischen Geschichte“, wie es im Untertitel heißt, minutiös analysiert, zeigt er Russlands Identitätsproblem und entlarvt die Irrationalitäten Putinscher Geschichtsklitterung.
Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums.
Verlag C.H. Beck, München 2023, 352 Seiten, 28 Euro
Konfuzius im Kontext
An Zitaten des großen chinesischen Meisters mangelt es nicht. Sie tauchen in politischen Reden auf, in literarischen Vorwörtern und auf Aphorismen-Seiten im Netz. Die meisten sind frei erfunden. Oder durch die Flüsterpost der Jahrhunderte so verwässert und zurechtgebogen, dass man heute eigentlich so gut wie alles hinter die Worte „Konfuzius sagt:“ schreiben kann. „In China würde man die meisten Sprüche wohl nicht wiedererkennen“, sagt Hans van Ess.
Der Sinologe hat die wichtigste Quelle, die Gespräche des Konfuzius neu ins Deutsche übersetzt. In seiner Version will er so nah am Original bleiben, wie möglich – ohne abendländische Färbungen, wie sie bisherigen Übersetzungen anhaften. „Man muss“, so sagt van Ess, „den Kontext verstehen und erklären, warum man etwas so und nicht anders Übersetzt.“
Außerdem seien die Gespräche keine wahllose Ansammlung einzelner Sprüche, sondern ein komplexes, durchkomponiertes Werk. „Auch das muss man erläutern.“ So weiß man am Ende nicht nur, was Konfuzius sagt, sondern versteht bestenfalls sogar, was er damit meinte.
Konfuzius: Gespräche. Neu übersetzt und kommentiert von Hans van Ess. C.H. Beck, München 2023, 816 Seiten, 48 Euro
Wer schreibt, der bleibt
Jesus sprach Aramäisch. Wichtige Teile des Alten Testament sind in dieser „Weltsprache des Altertums“ geschrieben, wie Holger Gzella, Ordinarius für Alttestamentliche Theologie an der LMU, sie nennt. Sie war mehr als zwei Jahrtausende lang die Sprache in den ersten Weltreichen der Geschichte, im Assyrischen Reich oder im Babylonischen Reich, sie war Amtssprache des persischen Großreichs. Bis hin zur Entstehung des Islam dominierte sie die Welt. Erst im 7. Jahrhundert n. Chr. wurde sie durch das Arabische, die Sprache des Korans, als vorherrschende Sprache im Vorderen Orient abgelöst. Gzella zeichnet in seinem Buch „Aramäisch“ aber nicht nur geschickt nach, wie Schrift und Macht verwoben waren, wie Netzwerke von Beamten und Schreibern in den frühen Reichen Politik, Recht und Religion der Alten Welt prägten. Er erzählt auch, warum eine neue Sprache und ihre Schrift für eine neu entstehende Welt mit ihren Hierarchien und Einflusssphären so wichtig waren und wie es sich im Raum zwischen Nordafrika und Indien durchsetzen konnte. Aramäisch ebnete den Weg für die späteren Alphabetsprachen. Und wer denkt, er habe es mit einer toten Sprache zu tun, irrt. Noch heute sprechen rund eine Million Menschen Weiterentwicklung der einstigen Weltsprache. (huf)
Holger Gzella: Aramäisch. Weltsprache des Altertums. Verlag C.H.Beck, München 2023, 480 Seiten, 36 Euro
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