Es wird eng, der Mangel immer größer. Abgesehen von einem Einbruch in der Zeit der Coronapandemie weist die Kurve seit einem Dutzend Jahren stetig nach oben. Regelmäßig befragen die Kollegen von Panu Poutvaara am ifo Institut mehr als 10.000 Betriebe und Unternehmen unter anderem, ob der Mangel an Fachkräften ihre Geschäfte beeinträchtigt. Im Sommer letzten Jahres antwortete die Hälfte der Firmen diese Frage mit Ja – ein Rekordwert. Mittlerweile hat sich die Kurve etwas abgeflacht, doch eben nur leicht, einen Grund zur Entwarnung sehen Arbeitsmarktexperten nicht.
Im Grunde fassen sie damit nur das in ein Diagramm, was jeder aus seinem unmittelbaren Alltag kennt: das Warten auf den Handwerkertermin, verkürzte Öffnungszeiten bei Geschäften und Restaurants, lange Schlangen an der Fluggepäckabfertigung auch dann, wenn gerade nicht gestreikt wird. „Wir suchen“ – ein solches Schild hängt in vielen Schaufenstern und vor Restaurants. Selbst in Vorstadtkinos werben Handwerk und Gewerbe um junges Personal – in Clips zwischen Filmtrailern und Langnese-Werbung.
Ein wenig verzweifelt wirken solche Versuche, gegen die Schwerkraft der Verhältnisse anzukommen, zu finden, wen es nicht gibt. Die Bundesagentur für Arbeit spricht ganz nüchtern von „Fachkräfteengpässen in zahlreichen Branchen“. Poutvaara, Professor für Volkwirtschaftslehre an der LMU und Ökonom am ifo Institut, warnt vor einem „noch nie dagewesenen Fachkräftemangel“. Gesucht sind derzeit besonders Fachkräfte im Gesundheitswesen und in Pflegeeinrichtungen, in der Bauwirtschaft, im Handwerk und in der IT-Branche.
Die Boomer-Generation verabschiedet sich in den Ruhestand
Es ist vor allem der demographische Wandel, der die Situation zuspitzt. Schon seit Langem werden in Deutschland weniger Kinder geboren als Menschen sterben. Der sogenannte positive Wanderungssaldo, die Differenz also aus Zuzügen und Fortzügen, sorgte indes dafür, dass zum Jahresende 2022 84,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in Deutschland lebten, so viele wie noch nie.
Doch diese absolute Zahl sagt noch nichts über die Altersverteilung, argumentiert Ökonom Poutvaara. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nämlich ist seit dem Höchststand im Jahr 2005 kontinuierlich auf zuletzt 62,3 Millionen geschrumpft. Und in dem kommenden Dutzend Jahren geht die vielbeschworene Boomer-Generation in Rente, eine unverhältnismäßig große Alterskohorte der Geburtsjahrgänge zwischen 1957 und 1969. Das spricht nicht gerade dafür, dass sich der Trend in absehbarer Zeit abschwächt. Damit die überalternde Gesellschaft also auch künftig funktioniert, das ist Poutvaaras klares Fazit, ist sie auf Zuwanderung angewiesen.
„Deutschland braucht jährlich etwa 400.000 Zuwanderinnen und Zuwanderer, wenn man einen dauerhaften Arbeitskräftemangel vermeiden will“, rechnet Poutvaara vor. Manche Ökonomen gehen sogar von einem noch höheren Bedarf aus. Das Plädoyer für mehr Migration dürften insofern einiges Gewicht haben, als Poutvaara nicht nur das ifo Zentrum für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung am ifo Institut leitet, sondern auch dem Sachverständigenrat für Integration und Migration angehört. Der Rat versteht sich als unabhängiges Gremium, das die Politik wissenschaftlich berät.
„Wir sollten Migration nicht als Gefahr, sondern als Chance wahrnehmen.“
Was die Zuwanderung und die Integration am Arbeitsmarkt angeht, müsse man differenzieren zwischen Menschen, die zu uns kommen um zu arbeiten, und solchen, die Schutz suchen, sagt der LMU-Professor: „Der Schutz nach dem Asylrecht wird auf Grundlage humanitärer Überlegungen gewährt und genießt in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen Verfassungsrang. Bei der Arbeitsmigration können die aufnehmenden Länder nach eigenem Interesse entscheiden, wer eine Arbeitserlaubnis erhält und wer nicht“, unterscheidet Poutvaara. Jenseits aller Überlegungen zu globaler Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe: Die Übergänge von der humanitären zur Arbeitsmigration sind fließend. Wer als Flüchtling anerkannt ist, steht dem Arbeitsmarkt automatisch zur Verfügung, ohne dass eine weitere Genehmigung der zuständigen Ausländerbehörde nötig ist.
Eines, so viel vorneweg, konnten Poutvaara und sein Team schon vor einigen Jahren klarstellen: Der gesamtwirtschaftliche Effekt von Einwanderung ist positiv. Die Münchner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben dafür die Wohlfahrtseffekte für 20 OECD-Länder berechnet. In der Mehrheit der Industrieländer (14 von 20) profierten nicht nur die gut ausgebildeten Einheimischen von der Anwesenheit der Migranten, sondern auch die schlecht ausgebildeten. Nur in wenigen Ländern verlieren einheimische Geringverdiener. Gerade in den unteren Lohnsegmenten, so lautet eine weit verbreitete Befürchtung, schaffe Migration Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und produziere Verlierer in der angestammten Bevölkerung. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien, so schreiben die Autoren, berücksichtige ihre Untersuchung ausgewogen die Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und öffentliche Finanzen
Die Integrationsfehler aus den 1950er-Jahren
Noch eine generelle – naheliegende – Erkenntnis können die Münchner Forscherinnen und Forscher mit ihren Arbeiten untermauern: Erfolg und Wohlfahrtsgewinn hängen wesentlich davon ab, Bedingungen dafür zu schaffen, die neu hinzugezogenen Menschen in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu integrieren. Erst kürzlich haben sie dies für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untersucht, die derzeit eine Bleibe in Deutschland gefunden haben. Da Integration oft Jahre dauere, so schreiben die Autoren, sei es schwierig, den Fachkräftemangel kurzfristig zu beheben, zumal viele der Geflüchteten ihre jetzige Situation als ein vorübergehendes Provisorium betrachteten.
Die Vorteile, so eine weitere Studie aus Poutvaaras Zentrum, sind besonders hoch für ein Land wie Deutschland, das aufgrund der Alterung der Bevölkerung mit einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung konfrontiert ist und eine niedrige Arbeitslosenquote hat. Doch die Erkenntnis, dass unser Wirtschaftswachstum und unser Wohlstand ohne Zuwanderung auf lange Sicht gefährdet sind, ist längst nicht bei allen angekommen. Einige Gesellschaftsgruppen stehen Migration kritisch gegenüber oder lehnen sie rundweg ab. Angst vor Armutszuwanderung, Überfremdung und Verarmung oder vor Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sind Schlagworte, die Gegner von Zuwanderung in der Diskussion anführen. Wie Diskussionen über Zuwanderung ihren Niederschlag in Zeitungen finden, welche Narrative in den Blättern auftauchen, haben Wissenschaftler um Poutvaara kürzlich auch mit Methoden des Natural Language Processing (NLP) zu untersuchen begonnen.
Dabei ist Arbeitsmigration, nicht nur in den alten Bundesländern, kein neues Phänomen. Seit Mitte der 1950er-Jahre kamen Millionen von Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Westdeutschland und trugen wesentlich dazu bei, das „Wirtschaftswunder“ am Laufen zu halten. Als die ersten Arbeitsmigrantinnen und -migranten 1955 aus Italien zu uns zogen, dachte allerdings niemand daran, dass sie auf Dauer bei uns bleiben würden, weder die Deutschen noch die Migranten selbst, sagt Poutvaara „Rückblickend war es ein Fehler, dass man sich bei der Zuwanderung nicht schon von Anfang um die Integration bemüht und in die Vermittlung von Sprachkenntnissen und Weiterbildung investiert hat“, kritisiert er. Vor allem in späteren Phasen der Zuwanderung von Menschen aus der Türkei führte das zu gesellschaftlichen Verwerfungen, die in Teilen bis heute bestehen oder zumindest nachwirken.
„Deutschland braucht jährlich etwa 400.000 Zuwanderinnen und Zuwanderer, wenn es einen dauerhaften Arbeitskräftemangel vermeiden will.“
Längst ist klar, dass eine wirksame Integrationspolitik, die auf gleiche Chancen für alle abzielt, nicht nur für die Stabilität der Gesellschaft nötig ist, sondern auch die Attraktivität eines Landes für Zuwanderinnen und Zuwanderer erhöht. Doch wie lässt sich die Immigration von Fachkräften fördern? „Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 ist
insgesamt zu begrüßen und stellt eine klare Verbesserung dar“, urteilt Poutvaara. Es erleichtert Fachkräften aus Drittstaaten außerhalb der EU die Einreise und Beschäftigung in Deutschland. Neu ist vor allem, dass nun auch beruflich qualifizierte, nicht-akademische Fachkräfte zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen können. Wer kein konkretes Arbeitsplatzangebot nachweisen kann, muss seine Qualifikationen offiziell anerkennen lassen, Deutschkenntnisse nachweisen und während der Aufenthaltsdauer von maximal sechs Monaten den Lebensunterhalt selbst bestreiten. Auch den Plan der Bundesregierung, über Migrationszentren in Afrika und Asien Fachkräfte anzuwerben, hält Poutvaara für eine gute Idee. Bislang unterstützen diese Zentren vor allem Rückkehrer aus Europa, nun sollen sie verstärkt dafür genutzt werden, Fachkräfte zu gewinnen und auszubilden.
Sprachbarrieren überwinden
Doch Poutvaara setzt auch auf ganz praktische Verbesserungen. Zunächst sollten Arbeitsmigranten beispielsweise während der Jobsuche in Deutschland mehr arbeiten dürfen als die vorgesehenen Probestunden und auch außerhalb ihrer Qualifikation, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können. Und da die Sprache eine wesentliche Hürde für Rekrutierung und Integration von Fachkräften aus dem Ausland ist und die USA, Kanada, Großbritannien und Australien mit Englisch als Weltsprache dabei deshalb deutlich im Vorteil sind, spricht er sich dafür aus, mehr Deutschkenntnisse in den Herkunftsländern über Goethe-Institute oder Onlinekurse zu vermitteln.
Auch die Verwaltung könnte ihren Teil zur Überwindung der Sprachbarriere beitragen, indem sie Informationen und Arbeitsangebote auf Englisch zur Verfügung stellt. „Hilfreich wäre auch, Menschen mit einem Jobangebot aus Deutschland rasch einen Termin bei der zuständigen Botschaft zu verschaffen, um die Einreiseformalitäten zu erledigen.“ Als weitere Hürde nennt der Wissenschaftler die großen Unterschiede der einzelnen Bundesländer bei der Erteilung einer Arbeitserlaubnis. „Wer bürokratische Regelungen schafft, darf sich nicht wundern, wenn ausländische Fachkräfte einen Bogen um Deutschland machen“, kritisiert Poutvaara.
Um zu zeigen, wie es anders gehen kann, lenkt der Ökonom den Blick nach Kanada. Dort fördert ein eigenes Ministerium für Immigration und Staatsangehörigkeit aktiv die Einwanderung von Fachkräften. Abhängig von Kriterien wie Ausbildung, Berufserfahrung und Sprachkenntnissen wurde ein System etabliert, das bei Erreichen einer bestimmten Punktzahl zur Einwanderung berechtigt. Immigration ist so zu einem zentralen Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialpolitik geworden, was sich schon darin zeigt, dass Einwanderinnen und Einwanderer „Economic Immigrants“ genannt werden.
Bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Geflüchtete
Für wichtig hält es der Ökonom auch, die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten zu verbessern. So schlägt Poutvaara vor, dass bei der Verteilung von Geflüchteten auf die Regionen, die Anzahl der offenen Arbeitsstellen in einer Region als zusätzliches Verteilungskriterium genutzt werden sollte. Einer seiner Studien zufolge steigt für die Geflüchteten in einer Gegend mit geringerer Arbeitslosigkeit die Chance sehr deutlich, dass sie nach zwei Jahren eine Voll- oder Teilzeitbeschäftigung haben – was nicht nur den Betroffenen, sondern auch den öffentlichen Finanzen helfe.
Wie ganz einfache Hilfen die Chancen für die Geflüchteten obendrein verbessern – darauf haben Forschende aus Poutvaaras Team die Probe aufs Exempel gemacht: In einer kontrollierten Studie interviewten sie rund arbeitssuchende Geflüchtete zu ihrer Jobsuche, halfen ihnen dabei, einen deutschen Lebenslauf zu schreiben, und speisten den bei einer NGO ein, der ihn an Arbeitgeber übermittelte. Telefoninterviews nach zwölf Monaten zeigten positive Effekte der Intervention vor allem für schlechter ausgebildete Geflüchtete.
Um den Arbeitskräftemangel zu verringern, steht Deutschland also vor einer doppelten Aufgabe: Die Attraktivität des Standorts für ausländische Fachkräfte zu erhöhen und gleichzeitig für eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten zu sorgen. „Wir sollten Migration nicht als Gefahr, sondern als Chance wahrnehmen“, fordert Poutvaara. Den Schlüssel für mehr Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben sieht er in der Bildung. Sie schafft bessere Kontakt- und Vernetzungsmöglichkeiten und damit auch bessere Erwerbschancen. Genauso wichtig ist aber auch ein ehrlicher Umgang mit dem Thema Migration und das Eingeständnis, dass Zuwanderung keine ganz einfache Angelegenheit ist, weder für die Ankommenden, noch für die Aufnehmenden. „Je mehr Menschen aber positive Erfahrungen damit machen, desto leichter lassen sich die Hürden für eine bessere Integration überwinden“, sagt Poutvaara.
Andreas Schuck
Prof. Panu Poutvaara, Ph. D., ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere vergleichende Institutionenökonomik, an der LMU und Direktor des ifo Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung am ifo Institut. Poutvaara, Jahrgang 1973, studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Helsinki, Finnland, wo er auch promoviert wurde. Er war Research Fellow am Copenhagen Business School, bevor er an der Universität Helsinki Professor wurde. Im Jahre 2010 kam er als Professor an die LMU und ans ifo Institut.
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