LMU-Professor Christoph K. Neumann leitet seit Kurzem das Orient-Institut der Max Weber Stiftung in der Türkei. Der 60-Jährige kehrt damit an den Ort zurück, wo er vor 30 Jahren schon nach seiner Promotion tätig war. Seine neuen Aufgaben als Direktor sind so vielfältig wie die Stadt am Bosporus.
Wer bereits in Istanbul war, ist wahrscheinlich schon mal unwissentlich am Orient-Institut (OI) der Max Weber Stiftung vorbeigekommen. Es liegt umgeben von zahlreichen Archiven, Handschriftensammlungen, Museen und Kunstgalerien in der Nähe des Taksim-Platzes – einem kulturellen und verkehrstechnischen Zentrum der Stadt. Seit Oktober 2022 ist Professor Christoph K. Neumann neuer Leiter des OI, der an der LMU – wegen seiner Position aktuell beurlaubt – den Lehrstuhl für Türkische Studien innehat. Ihn für das Gespräch in München zu erwischen: eine Ausnahme.
„Das OI steht im regelmäßigen Austausch mit allen, die türkische Studien betreiben“, erklärt der 60-Jährige. Dabei gehe es nicht nur um historische nahostwissenschaftliche Themen, sondern auch um gegenwartsbezogene benachbarte Wissenschaften wie Literaturforschung, Soziologie, Religionswissenschaft, Linguistik, Anthropologie oder Musikwissenschaft. Außerdem bemüht sich das OI aktiv um den wissenschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und der Türkei beziehungsweise mit den Nachbarregionen Iran und Südosteuropa.
Ursprünglich wurde das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut gegründet. Die Gesellschaft ist die älteste wissenschaftliche Vereinigung deutscher Orientalisten – „daher der komisch wirkende Name“, erklärt Neumann. Als aber Ende der 80er-Jahre der Bürgerkrieg im Libanon begann, mussten bis auf einige Ortskräfte aus Sicherheitsgründen alle ausländischen Beschäftigten Beirut verlassen. Daher wurde beschlossen, in Istanbul eine Außenstelle einzurichten. Als der Krieg Mitte der 90er-Jahre vorbei war, wurde aus dem Provisorium eine Dauerlösung.
Die Türkei und das Osmanische Reich sind Neumanns „Lebensthema“
Für Neumann ist der neue Posten eine Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte: Er war bereits von 1993 bis 1996 in Istanbul tätig, als das Institut noch besagte Außenstelle war. Schon als Jugendlicher interessierte er sich für türkische Geschichte und Kultur – ohne zu wissen, dass die Türkei und das Osmanische Reich einmal sein „Lebensthema“ werden sollten. Nach seiner Promotion an der LMU und anschließender Forschungstätigkeit am OI lebte und lehrte er in Prag und wieder in Istanbul. Parallel zu seiner Professur an der LMU seit 2008 nahm er jahrelang einen Lehrauftrag an der Istanbuler Bilgi-Universität wahr.
2009 wurde das OI als eigenständiges Institut in die Max Weber Stiftung aufgenommen. Diese zählt zu den bedeutendsten Trägern deutscher geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung im Ausland und hat weltweit elf wissenschaftlich autonome Institute. Wie viele solcher Institute es in anderen Fachbereichen gibt, ist laut Auswärtigem Amt schwer zu überblicken. Unter anderem, weil neben den Außenstellen auch sogenannte Arbeitsstellen oder Zentren existieren oder andere Institute trotz des Namens keine klassischen Forschungsinstitute sind.
Aktuell verbringt Neumann viel Zeit damit, das OI zu moderieren und zu leiten. Gerade enden die Baumaßnahmen an dem „Club Teutonia“, einem historischen Gebäude, das für das Institut umgebaut worden ist, was auch organisatorisch einigen Aufwand bereitet hat. „Es gab immerhin weniger Probleme als bei Stuttgart 21“, sagt der Direktor und lacht. Aber die Arbeit sei trotzdem immens gewesen. Neben der Forschung am Institut will er die wissenschaftliche Nachwuchsförderung weiter vorantreiben und die bibliothekarische Sammlung ausbauen. Derzeit befinden sich in der Bibliothek des OI über 50.000 Einheiten; jedes Jahr kommen rund 2.000 Bücher und 750 Zeitschriftenhefte hinzu.
Zu viele Themen werden aus europäischer Perspektive angegangen
Ein neues Buch will auch Neumann beisteuern. Darin soll es um die Entstehung einer öffentlichen Sphäre in Istanbul während des 19. Jahrhunderts gehen. Themen würden noch immer zu oft aus einer eurozentrischen Sicht, also aus europäischer Perspektive, angegangen. Istanbul biete für einen besseren Blick beste Bedingungen, weil die Stadt sowohl europäisch als auch gänzlich uneuropäisch sei. „Sie entspricht einerseits den lateineuropäischen Erwartungen – und auch wieder gar nicht.“ Wissenschaftlich setzt er auf Austausch und Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus den türkischen Geistes- und Sozialwissenschaften, die „auf Augenhöhe“ mit Fachleuten aus angelsächsischen und europäischen Ländern arbeiten.
Neumann wünscht sich, dass die wissenschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei in Zukunft noch weiter zunehmen. Leider spielt dabei die Politik nicht immer mit. Der Historiker hält sich bei diesem Thema zurück. „Als Direktor bin ich politisch neutral“, betont er. Gerade sei ohnehin alles von dem Erdbeben überschattet. Die Region werde sicher viele Jahre unter den Folgen leiden, aber im Moment sei das ganze Land aufgewühlt. Die Entwicklung in der näheren Zukunft sei überhaupt nicht absehbar: „Im Moment stehen alle im Institut unter Schock!“
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