Heimatpflege und Oberbayern – bei diesen Begriffen fallen manchem reflexartig die üblichen Klischees ein: Trachten, Berge, Blasmusik oder die Beschränkung des kulinarischen Angebots auf Weißwurst, Brez‘n und Bier.
Dass Oberbayern sehr viel mehr zu bieten hat, dass es eine ausgesprochene Kultur- und Wirtschaftsregion mit bewegter Geschichte, mit Kunst, Literatur und Theater ist und bleibt, dafür setzt Dr. Norbert Göttler von Amts wegen ein. Der Bezirksheimatpfleger fungiert als Vermittler, Berater und Ansprechpartner etwa bei der Ortsbildgestaltung, bei Projekten wie der Planung von Museen oder Ausstellungen, der Denkmalpflege oder bei der Beratung im Hinblick auf Fördermittel. Er unterstützt aber auch, wenn es zum Beispiel um die Auflösung privater Sammlungen geht.
Kultur, Literatur und Kunst
Die Vielgestaltigkeit der Aufgaben zeigt deutlich: „Ich bin mehr der Universalist als der Spezialist“, betont Norbert Göttler, „und Heimatpflege ist eine Querschnittsaufgabe, die, kurz gesagt, von der Archäologie bis zur Zeitgeschichte reicht.“
Schon vor seiner Tätigkeit hatte Göttler mehrere thematische Schwerpunkte. Nach dem Studium der Philosophie und Theologie, schließlich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der LMU – in letzterem Fach wurde er an der LMU auch promoviert – war er als Journalist unter anderem für die Süddeutsche Zeitung oder als Filmemacher für den Bayerischen Rundfunk tätig. Er schrieb und schreibt Sachbücher zur Religion und Kirche, zur Geschichte und Kultur, Gedichte, aber auch Krimis. Überdies ist er seit einem Jahr Prodekan der Klasse „Künste“ der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (EASA).
Ich denke, dass es durchaus ‚Heimaten‘ gibt
Das zeigt deutlich: Für Norbert Göttler gibt es nicht nur die Heimat. „Früher hat man bestritten, dass es einen Plural dafür gibt. Ich denke, dass es durchaus ‚Heimaten‘ gibt.“ Gefühle, Erinnerungen oder Orte, aber auch die Musik, die Literatur oder die Kunst könnten unter dem Begriff subsumiert werden. „Es ist eine Frage der Toleranz, zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben.“
Wichtig sei, so Göttler, sich darüber im Klaren zu sein „welche Heimaten wir den nachfolgenden Generationen und in welchem Zustand überlassen wollen“. Denn es gibt große Herausforderungen. Sorge bereitet ihm etwa der stark und sehr schnell voranschreitende Ausbau der Metropolregion München. „Entlang der S-Bahn-Strecken sind regelrechte Schlaforte entstanden, wo sich junge Familien mit dem Wissen niederlassen, maximal drei, vier Jahre zu bleiben, um dann wieder zu gehen. Dort kann eine Verwurzelung nicht stattfinden“, weiß Göttler. Oberbayern bestehe heute zu zwei Dritteln aus Metropolregionen. Dabei sei das Problem nicht ihre Erweiterung an sich, sondern ihr zu schnelles, geradezu ungeplant wirkendes, teilweise chaotisches Wachstum. Zudem konstatiert er ein stärkeres Unabhängigkeitsbedürfnis, das der Bindungsfähigkeit von Gemeinden zuwiderlaufe. „Früher hieß es immer, die Jungen wollen sich nicht mehr binden. Heute trifft das leider auch auf die ältere Generation zu – etwa bei der Zurückhaltung im ehrenamtlichen Engagement. Wenn sich kein Nachbarschafts- oder Gemeinschaftsgefühl entwickeln kann, leidet auch die Heimatpflege.“
Es braucht den Blick in die Geschichte
Für den Philosophen Ernst Bloch war Heimat etwas, das uns „in die Kindheit schien“ und erst, wenn sich der Mensch seiner selbstentäußernden Lebensweise entledigt habe, beginne die Geschichte und damit auch so etwas wie Heimat. Das kann man sehen, wie man will. Für den LMU-Alumnus ist die Geschichte wichtig, um Heimat zu verstehen und zu verhindern, dass sie nur „Tümelei“ ist, und zudem herauszustellen, dass Orte nicht nur den einen historischen Bezugspunkt haben. Ein gutes Beispiel sei der Kreis Dachau, für den Göttler schon als Kreisheimatpfleger zuständig war. „Dachau wird heute natürlich zuerst mit dem Konzentrationslager und der NS-Geschichte assoziiert. Wenn man die Stadt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrachtet hätte, wäre ein ganz anderes Klischee augenfällig gewesen – nämlich das der Künstlerstadt.“ Worpswede und Dachau seien die bedeutendsten Künstlerkolonien Deutschlands gewesen.
„Beide historischen Bezugspunkte sind da und man kann sie nicht gegeneinander ausspielen, man kann sie auch nicht trennen.“ Natürlich habe die Stadt unter dem einseitigen NS-Geschichtsbild gelitten – aber heute werde das durch Initiativen und Projekte mit anderen historischen Perspektiven korrigiert. Schließlich, so Göttler, hatte Dachau zur NS-Zeit 6.000 Einwohner – heute seien es zehnmal so viele. „90 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner haben überhaupt keine verwandtschaftlichen Beziehungen mehr zum früheren Dachau.“ Er freut sich daher besonders, dass viele „Zugereiste“ sich mit den historischen Wurzeln ihrer neuen Heimat auseinandersetzen würden und einen mehrdimensionalen Blick darauf zu schärfen helfen.
Gute Kontakte zur LMU
Nicht zuletzt konnte Norbert Göttler immer auch auf seine Kontakte zu seiner Alma Mater bauen, wenn es um Themen der Heimatpflege ging, aber auch, um Impulse und Anregungen für sein schriftstellerisches Werk zu erhalten.
Gute Kontakte hat er etwa zum Institut für Bayerische Geschichte. Und über den renommierten Theologen Professor Eugen Biser hat er nicht nur einen Film gemacht, sondern ihn auch bei der Etablierung des Seniorenstudiums an der LMU unterstützt.
Davon hofft er jetzt auch wieder stärker zu profitieren – denn Ende vergangenen Jahres ist Norbert Göttler in den vorzeitigen Ruhestand gegangen und damit auch in eine alte Heimat zurückgekehrt – nämlich der Beschäftigung mit wissenschaftlichen, insbesondere philosophischen Fragestellungen. „Der Arbeitsalltag lässt in der Regel keine Zeit für eine Beschäftigung damit“, sagt Göttler, der jetzt auch wieder die ein oder andere Vorlesung an der LMU besuchen wird. Er möchte sich mit der Demokratie befassen, welche Veränderung sie durchlaufen muss, um zukunftsfähig zu sein, und von welchen Seiten die größten Gefahren drohen. Auch die Fragen, inwieweit Heimatpflege und Menschenrechte zusammenhängen, sollen ein Thema sein. Ruhestand hin oder her – es bleibt für ihn immer weiter bei spannenden Beschäftigungen mit verschiedenen Heimaten.
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