„Wenn die mich nehmen, werde ich Schriftstellerin.“ Die Sterne standen günstig, als Annette Pehnt 1997 ihre Bewerbung für ein Romanseminar im Literaturhaus München in den Briefkasten warf. Die Einladung ins Seminar kam und direkt danach erschien ihr Romanprojekt Ich muss los 2001 im Piper Verlag und begründete eine bemerkenswerte Schriftstellerlaufbahn mit inzwischen 26 Büchern unterschiedlicher Genres und wichtigen Preisen. Heute unterrichtet Annette Pehnt, seit 2018 Professorin für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, selbst literarisches Schreiben. Als 2011 erstmals Seminare der Bayerischen Akademie des Schreibens an den Universitäten ausgeschrieben wurden, war sie die Leiterin eines solchen Seminars. Aus dem Stapel eingegangener Bewerbungen wählte sie die von Markus Ostermair aus, dessen Text, eine kleine Szene um einen Obdachlosen, dann zur Keimzelle des Romans Der Sandler wurde, eines der wichtigen Debüts der letzten Jahre. So lassen sich Geschichten von künstlerischen Institutionen erzählen: als eine Genealogie bekannter Namen, die mal unbekannt waren, als ein mehr oder weniger zufälliger Kreuzungspunkt von Talenten, einem Netzwerk, das aus sich selbst heraus entsteht.
Eine Institution im strengen Sinne aber ist diese Akademie nicht. Sie hat kein eigenes Haus, keine Direktorin, keinen Hausmeister, sie hält keine Prüfungen ab und vergibt keine Diplome. Unter der Initiative von Elisabeth Donoughue aus dem Literaturreferat im Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst taten sich 2008 Professorinnen und Professoren der Literaturwissenschaft aus den sieben Universitäten LMU, Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Erlangen, TU München und Regensburg mit dem Literaturhaus München zusammen, um in einem Kooperationsverbund Seminare zum literarischen Schreiben an ihren Universitäten anzubieten. Ihnen gingen, modellbildend, die Manuskriptum-Seminare an der LMU voraus und die langjährigen Erfahrungen des Literaturhauses mit Autorenseminaren. Am Literaturhaus ist die Schreibakademie auch heute beheimatet, dort hat sie ihr Zentrum und bildet eine eigene Programmsäule des Hauses. Alle Autorenseminare finden dort oder in Sulzbach-Rosenberg statt, die Universitätsseminare an den Universitäten selbst. Der bewusst gewählte Name „Akademie“ verweist auf eine Ausbildungstradition, die es in den Künsten wie Musik oder Bildender Kunst seit Jahrhunderten gibt. Nun hat auch die Literatur an verschiedenen Orten solche Räume, gar Studienwege, und sie haben das Selbstbewusstsein einer jüngeren Autorengeneration seit den 2000er-Jahren verändert.
Längst ist die alte Streitfrage, ob man das Schreiben lernen und lehren kann, darüber grau und uninteressant geworden. Ja, was denn sonst, man muss es lernen, wer sollte es von selbst können? Das steht ebenso eindeutig fest wie die Tatsache, dass jedes Schreiben ein eigensinniges Lesen voraussetzt. Dies ist die im Kern sehr simple Basis der „Lehr“-werkstatt Schreibseminar: Man liest einander. Und zwar so, dass Texte aus ihren eigenen Intentionen heraus verstanden, in ihrer Form reflektiert und an sich selbst gemessen werden. Den Prozess, aus Leseeindrücken relevante Kritik zu destillieren, leitet jeweils ein erfahrenes Führungsduo von Autorin und Autor und Lektorin und Lektor an. Ein Text, zwölf Blicke. Viel Zeit, um übereinzukommen, worin die Potenziale eines Buchprojekts liegen, wo seine Schwächen. Oder auch, um nicht übereinzukommen. So oder so aber wird sich um den eigenen Text ein Horizont von Perspektiven auftun, handwerkliche Fehler sollten deutlich geworden sein, und es können Ideen zu neuen Ansatzpunkten keimen. Die überarbeitete Fassung ist Grundlage für die nächste Textdiskussion – und so fort. Schließlich bedeutet Schreiben nach einen Bonmot Samuel Becketts nichts anderes als „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Es erfordert Mut und Standfestigkeit, in so einer Textdiskussion alles einmal zur Disposition zu stellen und den eigenen Text gleichzeitig vor falschen Einflüsterungen zu schützen. Es kann weh tun, und der sogenannte „geschützte Raum“ kann sich ziemlich unbarmherzig anfühlen. Wenn man aber ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Gewinn des Seminars befragt, wird die Gruppe als wichtigster Grund genannt, sich mit einem unfertigen Text in eine solche Arena zu begeben – und in den letzten Jahren steigt ihre Bedeutung. Alles andere, was Seminare auch leisten – handwerkliche Verfahren von erfahrenen Autoren und Autorinnen zu lernen, entdeckt zu werden, Informationen über den Literaturbetrieb zu bekommen, Kontakte zu wichtigen Vermittlern oder Verlagen zu knüpfen –, rangiert dahinter. Die Gruppe ist Gegenpol zum einsamen Schreiben. Die Gruppe ist ein ausgewählter Kreis von „Gleichgesinnten“, die Markus Ostermair sonst „rar gesät“ findet. Es braucht tatsächlich eine ähnliche „Gesinnung“, ein gewisses erotisches Verhältnis zur Sprache, um sich über Adjektive streiten zu können oder eine Erzählperspektive Satz für Satz in ihren Möglichkeiten und Begrenzungen zu durchdringen, dazu eine Vorstellung und Erfahrung von literarischer Relevanz und Wirksamkeit. Es scheint schwerer geworden zu sein, dafür Gleichgesinnte in den Schulen oder Universitäten, im öffentlichen Diskurs zu finden.
Wollte man methodische Neuerungen in den Seminaren benennen, so zählen gewiss die Schnittstellen dazu, die es zum Film und Drehbuch gibt. Dort wurde ein Wissen um Dramaturgie und Konflikte systematisiert, das auch für Prosatexte sehr erhellend sein kann. Zunehmend wichtig werden aber auch Fragen nach der persönlichen Schreibpraxis und den eigenen Schreibimpulsen. Das kann sehr praktische Fragen betreffen. Wie schreibt man? Wann? Und wie lange? Was tun gegen die dauernden Versagensgefühle und Unlust? Was braucht es, damit es gut läuft? In dieser Entwicklung treffen sich Schreibseminar und akademische Schreibforschung. Schreiben lautet lakonisch der Titel von Carolin Amlingers jüngst erschienener Studie zur Soziologie literarischer Arbeit, die grundsätzlich in der Tradition von Pierre Bourdieus Studie zum literarischen Feld steht. Interessant aber sind ihre methodisch anderen Ansätze. Wo Bourdieu den Antagonismus zwischen Kunst und Ökonomie anhand eines Romans aus dem 19. Jahrhundert, Flauberts Erziehung des Herzens, entfaltet, führt sie Interviews mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sie interessiert eine mögliche Autonomie der Kunst nicht allein als gesellschaftliche Größe, sondern auch als eine des persönlichen Erlebens beim Schreiben. Aufschlussreich sind zudem ihre Differenzierungen des Feldes, sie erweitert es zum Beispiel um Ausbildungsorte für Schriftsteller als „kommunikationsintensive Produktionsräume“ und Institutionen einer vermittelnden Öffentlichkeit wie Literaturhäuser, wo Lesungen zu einer wichtigen Einnahmequelle für Autoren geworden sind.
Diese Entwicklungen werden oft als Faktoren einer Professionalisierung des Autorendaseins beschrieben. Nicht übersehen aber sollte man, dass auch das Gegenteil stimmt, eine neue, im besten Sinne dilettantische Freude am Scheiben. Schreibwerkstätten gibt es inzwischen an vielen Orten, an Volkshochschulen, in privaten Zirkeln oder im Luxushotel. Auch das Literaturhaus bietet seit einigen Jahren Offene Werkstätten für jedermann an, die auf eine große Nachfrage stoßen. So wie man immer schon ein Instrument erlernen konnte, um dann privat in der Band oder dem Quartett zu spielen, kann man schreiben, ohne notwendig auf die Veröffentlichung zu warten, und findet hier Gleichgesinnte. Schreibwerkstätten geben Impulse, vermitteln das Schreiben (auch) als Handwerk und zeigen die Sprache als herausforderndes Material. Ähnlich wie in einem Chor kommt man zusammen, um zu lernen, sich auszuprobieren, zu teilen.
Probebühne und Professionalisierungshilfe – die Seminare der Bayerischen Akademie des Schreibens an den Universitäten sind beides und liegen in Anspruch und Ausrichtung zwischen solchen Offenen Werkstätten und den auf Publikation zielenden Autorenseminaren. Studierende aus allen Fakultäten können sich bewerben, und es ist egal, ob man sich das erste Mal ausprobiert oder schon seit Langem schreibt. Die Medizinerin Julia Kicherer sagt von sich: „Ich schreibe, weil ich merke, dass es mir ein Bedürfnis ist, das ich kurzzeitig ignorieren kann wie Schlaf oder Bewegung – aber es geht mir eben nicht besonders gut, wenn ich es ignoriere. (…) Ich habe mir schon Geschichten ausgedacht, bevor ich schreiben konnte.“ Sie war Teilnehmerin im letzten Seminar wie auch die Anglistin Elisabeth Huber, die mit dem Schreiben erst begonnen hat, als sie die Ausschreibung der Akademie gesehen hat. Jetzt macht sie weiter und entdeckt beim literarischen Schreiben, wie der Körper, persönliche Wahrnehmungen, die ganze Person einfließen – eine gute Ergänzung zu ihren wissenschaftlichen Studien, findet sie. Es gibt mittlerweile eine stolze Liste von Autorinnen und Autoren, die aus diesen Uni-Seminaren hervorgegangen sind, darunter Fridolin Schley, Lena Gorelik, Thomas von Steinaecker, Manuel Niedermeier, Bernhard Heckler, Angela Lehner, Maddalena Fingerle und andere. Dennoch ist es nicht das wichtigste Anliegen, literarischen Nachwuchs zu entdecken und zu fördern. Auch der künftigen Lehrerin, dem Biologen und der Philosophin soll das Seminar Gelegenheit bieten, fachliche Kompetenzen zu ergänzen und Freude an der persönlichen Ausdruckskraft zu gewinnen. „Dass sprachliche Kompetenzen jenseits der Beherrschung der Fachterminologie in der Wissenschafts- und Technikkommunikation eine wichtige Rolle spielen, liegt auf der Hand“, sagt Fred Slanitz von der TU München. Auch wenn das Schreiben in den Wissenschaften, den Geisteswissenschaften zumal, eine Kernkompetenz ist, ist es oft ein einsamer Weg, darin seinen Stil zu finden. Und ein eigenes und genaueres Verständnis von der Gemachtheit und Gestimmtheit von Texten kann auch ein philologisches Lesen bereichern. „Ich denke jetzt anders über Texte nach, sehe sie mir auch anders an“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Fabienne Imlinger. Sie hat nach ihrer Promotion mit ihrem ersten Roman an einem Autorenseminar teilgenommen und studiert nun weiter in Hildesheim. Als „Ort der Sprachbegegnung auf allen Ebenen“ wünscht sich Stephanie Waldow die Akademie, die als Professorin die Ausschreibung und Betreuung der Seminare in Augsburg lenkt. Sie holt die Autoren, die Seminare geleitet haben, auch gerne weiterhin nach Augsburg und sucht den Austausch zwischen künstlerischer Kreativität und Wissenschaft.
Teilnehmende an Seminaren sind Wiederholungstäter. Sie suchen diesen Austausch, auch beim zweiten und dritten Buch. Dann wird der geschlossene Raum zu einem Widerlager gegenüber den wachsenden Herausforderungen des Betriebs. Nach dem Seminarwochenende kehren sie an den Schreibtisch zurück und schreiben – allein. Es bleibt eine einsame Tätigkeit. Aber man hat sich im Spiegel anderer erlebt, hat ja und nein zur Kritik am eigenen Text gesagt, kann nun besser scheitern – ein stärkender Umweg zu sich selbst.
Die Bayerische Akademie des Schreibens ist eine Kooperation zwischen dem Literaturhaus München, den Universitäten Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Erlangen, LMU München, TU München, Regensburg, dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg sowie dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.
www.literaturhaus-muenchen.de/akademie
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