Natur als Inspirationsquelle

Neue nanostrukturierte Werkstoffe: Forschung an der Schnittstelle von Biologie und Materialwissenschaften

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Normale Kristalle bestehen aus Atomen oder Molekülen, die in einem regelmäßigen Kristallgitter angeordnet sind. Mesokristalle hingegen sind aus kristallinen Nanopartikeln aufgebaut. „Vereinfacht gesagt bauen wir Super-Kristalle aus sehr winzigen Kristallen“, sagt die Chemikerin und Kristallographin Elena Sturm. Foto: Jan Greune

Die Natur macht es vor, die Wissenschaft macht sich ihre Ideen zunutze. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Die Blätter der Lotuspflanzen dienten als Vorbild für besonders wasser- und schmutzabweisende Oberflächen. Die Widerhaken der Großen Klette waren die Vorlage für die Erfindung des Klettverschlusses. Und Vögel inspirierten die ersten Flugzeugbauer mit ihren Flügelformen.

„Die Natur hatte viel Zeit, Lösungen für Probleme zu optimieren, die unseren heutigen Herausforderungen in Technik und Medizin sehr ähnlich sind“, sagt Elena Sturm. Seit Anfang 2022 ist sie an der LMU Professorin für Angewandte Mineralogie: Geomaterialien in Technik und Umwelt. Ihr Ziel ist es, neue Materialien mit herausragenden Eigenschaften zu entwickeln. Ihre Inspirationsquelle: die Natur.

Verstehen, imitieren, neu bauen

Die Wissenschaftlerin geht dabei in drei Schritten vor, die ineinandergreifen. Zuerst versucht sie zu verstehen, wie natürliche Biominerale zum Beispiel im Körper gebildet werden. Dann baut sie diese im Labor nach. Schließlich nutzt sie gemeinsam mit ihrem Team die gewonnenen Erkenntnisse dazu, komplett neue Materialien zu erschaffen.

Elena Sturm begann bereits während ihrer Diplomarbeit im Chemiestudium, sich mit Biomineralen zu beschäftigen. Zunächst waren es pathologische Biominerale, also Ablagerungen, die man eigentlich nicht in seinem Körper haben möchte, wie Zahn- und Nierensteine. Als sie 2007 während ihrer Doktorarbeit ans Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden wechselte, verschob sie ihren Fokus auf physiologische Hartgewebe, wie Knochen und Zähne. Außerdem begann sie, an synthetischen biomimetischen und bioinspirierten Materialien zu arbeiten, Materialien also, die in Aufbau und Funktion den natürlichen Stoffen nachempfunden sind, aber im Labor hergestellt werden. Ihre Erkenntnisse sollen eines Tages Einzug in die medizinische Versorgung finden. So will Sturm beispielsweise Zahnfüllungen entwickeln, die sich perfekt mit Zahnschmelz und Dentin verbinden, die also problemlos mit dem körpereigenen Gewebe verwachsen.

Um solche Materialien im Reagenzglas zu erschaffen, muss man zunächst ganz genau verstehen, wie sie im Körper gebildet werden. Zähne beispielsweise bestehen, genau wie Knochen oder Muschelschalen, aus einer organischen und einer mineralischen Komponente. Die organische Komponente bildet das Gerüst, das das Wachstum der mineralischen Komponente steuert. Dadurch entstehen sehr komplexe, hierarchische Nanokomposit-Strukturen, mit besonderen mechanischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften. „Mich fasziniert, wie aus den gleichen Ausgangsstoffen durch ausgeklügelte Selbstorganisation neue Materialien mit ganz verschiedenen Eigenschaften entstehen können“, erklärt Elena Sturm. das Mineral Apatit beispielsweise, Hauptbestandteil unserer Knochen und Zähne, ist eigentlich sehr brüchig. Durch die besondere Struktur auf Nanoebene sind unsere Knochen aber dennoch fest und stabil.

Gleiche chemische Zusammensetzung – andere Eigenschaften

Sturm erzählt, wie ihre Forschung vor zehn Jahren einen entscheidenden Impuls bekam. Sie war damals gerade als Nachwuchsgruppenleiterin und Habilitandin an die Universität Konstanz gewechselt und besuchte dort einen Vortrag über die Evolution und Adaptation von Buntbarschen. Sie lernte dabei, dass diese im Victoriasee eine unglaubliche Artenvielfalt aufwiesen. Einige sind auf weiche Nahrung, zum Beispiel Insekten, spezialisiert, andere knacken mit ihren Zähnen harte Schneckenhäuser, um an ihre Leibspeise zu kommen. „Wir standen nach diesem Vortrag lange zusammen und haben diskutiert, wie es sein kann, dass die Fische auf so unterschiedliche Nahrung spezialisiert sind. Das müsste sich doch auch im Gebiss der Fische widerspiegeln“, erinnert sich Elena Sturm an diesen Tag.

Gemeinsam mit Kollaborationspartnern hat die LMU-Wissenschaftlerin anschließend den Aufbau der Fischzähne bis ins kleinste Detail untersucht und herausgefunden, dass die chemische Zusammensetzung des Zahnmaterials gleich ist. Der Zahnschmelz besteht aus Apatit, einer sehr harten Calcium-Phosphat-Verbindung. Doch die konkreten mechanischen Eigenschaften des Apatits hängen davon ab, wie genau das Material auf Nano- und Mikrometer-Ebene zusammengesetzt ist: Kleine evolutionäre Veränderungen haben offenbar große Auswirkungen. So haben die die Muschelknacker viel robustere Zähne als die Insektenfresser.

In einem neuen Projekt will Sturm noch mehr über die evolutionäre Optimierung der Fischzähne herausfinden. Gemeinsam mit Bettina Reichenbacher, Professorin für Paläontologie an der LMU, vergleicht sie Zähne von fossilen und modernen Buntbarschen. Das soll Aufschluss darüber geben, wie sich die Zähne an ungünstige Umweltbedingungen und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln angepasst haben.

Mesokristalle sind vielfältig einsetzbar

Die Erkenntnisse über den Aufbau von Nanokompositen sind die Grundlage dafür, schließlich auch künstliche, selbstassemblierende Nanopartikel zu erschaffen. Besonders interessiert Elena Sturm sich für sogenannte Mesokristalle. Normale Kristalle bestehen aus Atomen oder Molekülen, die in einem regelmäßigen Kristallgitter angeordnet sind. Mesokristalle hingegen sind aus kristallinen Nanopartikeln aufgebaut. „Vereinfacht gesagt bauen wir Super-Kristalle aus sehr winzigen Kristallen“, scherzt Sturm.

Das Besondere daran ist: Nanopartikel können ihre besonderen Eigenschaften behalten, wenn sie in einem Mesokristall angeordnet sind. Dadurch lassen sich Eigenschaften wie zum Beispiel Superparamagnetismus von der Nano- auf die Mesoskala übertragen. Aufgrund dieser Vorteile wird prognostiziert, dass Mesokristalle in zahlreichen biomedizinischen oder sensorischen Anwendungen zum Einsatz kommen werden. So könnten solche Partikel in Zukunft etwa in der Krebstherapie helfen. Superparamagnetische Eisenoxid-Nanopartikel und -Anordnungen zum Beispiel können als Reaktion auf ein wechselndes Magnetfeld Hyperthermie erzeugen. Dieser Wärmeschub kann den Zelltod auslösen, insbesondere bei Tumorzellen, die offenbar empfindlicher auf Temperaturerhöhungen reagieren. Auch im Bereich der Katalyse oder bei der Energieumwandlung könnten metallische und halbleitende Mesokristalle zum Einsatz kommen. „Auf diesem Gebiet sind viele spannende Entwicklungen zu erwarten“, sagt Sturm. „Ich bin neugierig, was wir noch herausfinden werden.“Im Bereich der Zahnfüllungen dagegen gibt es bereits jetzt große Fortschritte. Schon bald könnten Zahnärzte die neuartigen Materialien etwa bei Karies verwenden – und einen großen Nachteil heutiger Füllungen vermeiden. Noch bleibt bei gängigen Materialien, nachdem das Loch gefüllt ist, zwischen Füllung und Zahn ein winziger Spalt. Denn das künstliche Füllmaterial kann sich nicht mit dem natürlichen Material der Zähne verbinden. Bakterien haben hier leichtes Spiel. Tatsächlich sind es gerade diese Materialgrenzen, an denen oft erneut Karies entsteht.Elena Sturms neues Füllmaterial verbindet sich perfekt mit dem Zahn. „Unser Material enthält nur Komponenten, die auch in natürlichen Zähnen vorkommen“, erklärt die LMU-Wissenschaftlerin. Folgekaries lässt sich dadurch verhindern. Zwei Patente sind bereits aus dieser Forschung hervorgegangen, der Weg in die Zahnarztpraxis hängt jetzt an den Partnern aus Medizin, Industrie und Wirtschaft. Der Erfolg wäre auch der Natur zu verdanken.

Claudia Doyle

Prof. Dr. Elena Sturm
ist seit 2022 Professorin für Angewandte Mineralogie: Geomaterialien in Technik und Umwelt in der Fakultät für Geowissenschaften (Sektion Kristallographie) der LMU. Sturm, Jahrgang 1983, studierte Chemie an der Staatlichen Universität Omsk, Russland, und wurde nach einem längeren Aufenthalt am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden an der Staatlichen Universität Petersburg, Russland, in Kristallographie und Mineralogie promoviert. An der Universität Konstanz war sie Mitglied des Zukunftskollegs, Nachwuchsgruppenleiterin in der Physikalischen Chemie und habilitierte sich mit einer Arbeit über nanostrukturierte Kompositmaterialien. 

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