Aus der Steppe in die Städte
Mongolei: Viele nomadische Hirten zieht es in die Zentren. Was heißt das für Umwelt und Ökosystem?

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Land im Wandel: Im Norden von Ulaanbaatar entstanden in den vergangenen Jahren ausgedehnte Jurtenviertel. Foto: Maximilian Mann/laif

Die mongolische Steppenlandschaft ist das größte Grünland-Ökosystem weltweit und von enormer globaler Bedeutung. Dort leben neben den jüngst wieder ausgewilderten Przewalski-Pferden die letzten freilebenden Gazellen Eurasiens. In Herden mit teilweise Tausenden von Tieren ziehen sie durch die Steppe. Allein aufgrund seiner Einzigartigkeit und Artenvielfalt ist dieses System besonders schützenswert. Darüber hinaus speichern die Graslandschaften der Mongolei immense Mengen an Treibhausgasen.

Doch die Mongolei und die Lebensweise ihrer Bevölkerung ändern sich. Wirtschaft und Infrastruktur des Landes sind seit einigen Jahrzehnten einem grundlegenden Wandel unterworfen. Was genau das wiederum für das Ökosystem Steppe bedeutet, will die Arbeitsgruppe von LMU-Geograf Professor Lukas Lehnert herausfinden. Die LMU-Forschenden sind maßgeblich an einem großangelegten Verbundprojekt mit verschiedenen Partnern aus Deutschland und vor Ort beteiligt.

Die Wirtschaft der Mongolei hängt stark von den Bodenschätzen des Landes ab. Ein Großteil des Bruttoinlandsprodukts wird durch Ölförderung sowie Kohle- und Kupferbergbau erwirtschaftet. Das bringt den Menschen einerseits Wohlstand, zerstört aber auch die Umwelt. Traditionell betreibt die mongolische Bevölkerung eine nomadische Form der Weidehaltung. Fernab von Großstädten und Bergbaugebieten ziehen nach wie vor viele Menschen mit ihren Schafen, Yaks, Rindern, Kamelen und Pferden durch die Landschaft.

Das Leben als nomadischer Hirte ist arbeitsintensiv und entbehrungsreich. Es gibt weder Sanitäreinrichtungen noch Supermärkte. Die Menschen leben aber nicht mehr wie vor hundert Jahren: Statt mit dem Pferd treibt man seine Herde heute mit dem Motorrad vor sich her, die Jurten werden mit dem LKW von einer zur nächsten Weide gefahren. Mobile Solarpanele sorgen für Strom in den Jurten, Mobilfunknetz und Internetempfang sind immer stärker verbreitet. So erhalten die Hirten auch Einblick in das moderne Stadtleben. Viele Familien entscheiden sich, die Steppe hinter sich zu lassen und in eine der Städte zu ziehen, wo sie sich angenehmere Lebensbedingungen und ein höheres und geregelteres Einkommen versprechen. Infolge dieser massiven Landflucht sind die Hauptstadt Ulaanbaatar und die Provinzstädte bereits extrem gewachsen.

Der Alltag in der Großstadt steht im krassen Gegensatz zu dem in der Steppe. „Das Leben in den Städten ist im Prinzip wie bei uns“, sagt Lehnert. In der mongolischen Hauptstadt existiere allerdings etwas, das es so sonst nirgendwo auf der Welt gibt. „Ulaanbaatar ist zweigeteilt“: Auf der einen Seite gibt es eine Stadt, die vergleichbar ist mit modernen europäischen Großstädten. Im Norden von Ulaanbaatar jedoch ballen sich sogenannte Jurtenviertel. Dort finden sich, umgeben von Holzzäunen, kleine Parzellen, in jeder davon steht eine Jurte. Hierhin kommen die Familien aus der Steppe und lassen sich für die erste Zeit nieder. Sobald sie genug Geld angespart haben, bauen sie sich eine kleine Hütte dazu oder ziehen ins eigentliche Ulaanbaatar.

Endlose Weite: „Weil das Land so flach ist, kann man oft kilometerweit sehen und unterschätzt die Entfernungen“, sagt Lukas Lehnert. „Benachbarte Jurten erscheinen ganz nah, obwohl sie eigentlich mehrere Stunden zu Fuß entfernt sind.“ Foto: Thomas Trutschel/Picture Alliance/Photothek

„Die Jurtenviertel sind weltweit einzigartig, man darf sie nicht mit einem Slum vergleichen, obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht so aussehen“, erklärt Lehnert. Die Einkommensstruktur und die sozialen Verhältnisse seien ganz anders. Trotzdem bringen die Jurten-Siedlungen massive Probleme mit sich. Um in die Stadt zu gelangen, ist ein Auto oder ein Motorrad nötig, entsprechend dicht ist der Verkehr. Die Jurten werden in den eiskalten Wintern fast ausschließlich mit Kohle beheizt. Ulaanbaatar ist oft von einer undurchdringlichen Smogwolke überzogen. Man kann dann kaum 200 Meter weit sehen.

Viele Bewohner der Jurtenviertel wollen zunächst auch ihre Tiere nicht aufgeben, sie dienen als Rückversicherung oder Altersvorsorge. Oft schließt sich eine Großfamilie zusammen und eine Person übernimmt die Herden von vier oder fünf Familien, oder es wird jemand für das Managen der Tiere angestellt. Meist werden diese Großherden nicht allzu weit von den Städten gehalten, wo sich die Beweidung dann stark auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert.

Gleise zerschneiden das Land in zwei Teile

Die traditionelle mongolische Landwirtschaft an sich ist kein Problem für die Umwelt. „Dieses Ökosystem wird natürlicherweise beweidet“, sagt Lehnert. Solange der Mensch das Land nicht zu stark übernutze, könne die Weidewirtschaft durchaus nachhaltig sein. Zum Problem werde sie erst, wenn der Beweidungsdruck zu hoch wird. Seit dem Jahr 1990 führten Wirtschaftseinbrüche und die Privatisierung der Herden zu einem extremen Anstieg der Viehzahlen. Es gibt insgesamt also mehr Nutztiere, die weniger mobil sind und sich um die bevorzugten Siedlungspunkte herum ballen.

Ein weiteres Problem ist die wachsende Infrastruktur, durch die die wilden Weidegänger in ihrer Mobilität eingeschränkt werden. Die Schienen der transmongolischen Eisenbahn verlaufen von der chinesischen Grenze im Süden bis zur russischen Grenze im Norden, zerschneiden also das Land in zwei Teile. Weil die Gleise komplett eingezäunt sind, können Herden diese künstliche Barriere nicht passieren. Hinzu kommt die zunehmende Erschließung der Bergbauregionen.

Auch außerhalb der Städte verändert sich das Leben der Nomaden. Statt mit dem Pferd treiben sie ihre Herde heute mit dem Motorrad vor sich her, mobile Solarpanels sorgen für Strom in den Jurten, das Mobilfunknetz wird flächendeckender. Foto: Bruno Blum/Picture Alliance/Prisma

Wie akut und schwerwiegend die Veränderungen auf das natürliche Gleichgewicht der Steppe sind, will das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Mobilität im Wandel: Nachhaltige Entwicklung des Mongolischen Steppenökosystems (MoreStep)“ herausfinden; Lehnerts Team deckt dabei den Bereich Fernerkundung ab. Ziel ist es, flächenhafte Informationen über den Zustand und Veränderungen der Vegetation und Biomasse bereitzustellen. Stark vereinfacht gilt dabei die Regel: je mehr Beweidung, desto weniger Biomasse. In der Realität ist die Sache allerdings etwas komplexer. „Wir haben in der Mongolei einen großen Klimagradienten: Im Süden liegt die Wüste Gobi und im Norden geht die Steppe bereits teilweise in Wald über“, erklärt Lehnert, der mit seinem Team auch Drohnen und Satellitendaten einsetzt.

Anhand ihrer Messungen können die Forschenden Aussagen darüber treffen, wo die Biomasse über die Zeit zu- oder abnimmt und im Idealfall herausfinden, woran das liegt. In den vergangenen Jahren konnten sie bereits zeigen, dass die Ursachen örtlich sehr unterschiedlich sind. „Teilweise haben wir in einem Tal eine große Biomasse und im Nachbartal eine relativ geringe, obwohl Herdengrößen und Klima eigentlich identisch sind“, beschreibt Lehnert. „Hier scheinen zusätzliche Faktoren eine Rolle zu spielen, die wir noch nicht fassen können.“ Ein heißer Kandidat: Steppenfeuer. Das Grasland der Mongolei brennt regelmäßig, jedoch wurde bisher kaum untersucht, wie sich das auf die Vegetation, Artzusammensetzung und Beweidungsqualität auswirkt.

Das politische Gewicht der Hirtenverbände

Obwohl sie für die Wildtiere eine große Barriere darstellt, ist die eingezäunte transmongolische Zugstrecke für Lehnerts Untersuchungen besonders interessant. „Entlang der gesamten transmongolischen Eisenbahn sieht man auf den ersten Blick, dass innerhalb des Zauns eine hochgewachsene, intensiv grüne Vegetation gedeiht, während es außerhalb sehr karg und gelb ist“, beschreibt der Geograf. „Das ist also ein gutes Modell für uns, um zu sehen, wie groß die Biomasse über den gesamten Klimagradienten von Nord nach Süd ganz ohne Beweidung wäre, im Vergleich zur intensiven landwirtschaftlichen Beweidung direkt daneben.“ Daraus erhoffe man sich in den verbleibenden zwei Jahren des Projekts, die kleinräumigen Muster in der Biomasse besser zu verstehen.


„In vielerlei Hinsicht kennen die Hirten ihr Land besser, als unsere Satelliten es tun. Dieses traditionelle Wissen ist wahnsinnig wertvoll und keinesfalls zu unterschätzen.“

Mit Vegetationsmodellierung simulieren die Forscher, was passieren würde, wenn es wärmer wird oder sich die Viehzahlen verändern. So können sie Bereiche identifizieren, die bereits stark degradiert, oder sogar unwiederbringlich zerstört sind und solche, in denen die Lage eher entspannt ist, wo also noch mehr beweidet werden könnte. „Wir entwickeln ein Informationssystem, das für Politik und Entscheidungsträger vor Ort einsehbar ist und ihnen dabei hilft, passende Maßnahmen zu ergreifen“, so Lehnert.

Auch den Hirten wollen sie die Informationen zur Verfügung stellen, in einer etwas vereinfachten Version für das Smartphone. Allerdings weiß Lehnert auch. „In vielerlei Hinsicht kennen die Hirten ihr Land besser als unsere Satelliten. Dieses traditionelle Wissen ist wahnsinnig wertvoll und keinesfalls zu unterschätzen.“ Der Nomadismus funktioniere eher informell und sei daher nur schwer zentral zu regulieren, ohne zu sehr in die Freiheit der Menschen einzugreifen. Ein vielversprechender Ansatz sind sich selbst organisierende Hirtenverbände. Denn, wie Lehnert betont, haben die Hirten selbstverständlich ein Interesse daran, dass ihre Weiden auch in Zukunft noch fruchtbar und nutzbar sind. „Der Status des Hirten genießt in der Mongolei ein sehr hohes Ansehen. Entsprechend großes politisches Gewicht hat die Meinung der Hirten und der Hirtenverbände.“

Wildtierherden stoßen immer öfter auf Hindernisse, etwa auf die komplett eingezäunten Gleise der transmongolischen Eisenbahn. Innerhalb des Zauns gedeiht eine hochgewachsene, intensiv grüne Vegetation, wie das Luftbild unten links zeigt. Foto: Daniel Svanidze

Wie geht es also weiter in der Mongolei? Werden große Kohle- und Erdölkonzerne das Land unter sich aufteilen und es ausbeuten? Wird das Nomadentum über kurz oder lang aussterben? Lukas Lehnert glaubt, dass das nicht zwangsläufig der Fall sein muss. „Die Hirten sind stolz darauf, Hirten zu sein. Die meisten fühlen sich nicht arm, das Auskommen ist im Vergleich meistens auch gar nicht so schlecht.“ Die moderne Technologie ermögliche es ihnen inzwischen, in der Abgeschiedenheit Kontakt zu Freunden, Nachbarn und Familie zu halten und ihr Leben komfortabler zu gestalten.

Insgesamt habe die Mongolei das Potenzial, sich in einer Art und Weise weiterzuentwickeln, die Fortschritt und Nachhaltigkeit miteinander vereine. „Im besten Fall entwickelt sie sich weiter als Demokratie, die es schafft, zwischen den mächtigen Nachbarn China und Russland zu existieren und weiterhin weitestgehend unabhängig zu wirtschaften und zu handeln. Ich glaube, die mongolische Gesellschaft ist in der Lage, eine nachhaltige Transformation durchzuführen.“

Dominic Anders

Prof. Dr. Lukas Lehnert ist Professor für Physische Geographie und Umweltfernerkundung an der LMU.

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