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Imitationswunder

Ursprung: Babys lernen, andere nachzumachen, weil sie selbst von ihren Bezugspersonen nachgeahmt werden.

Ohne darüber nachzudenken, lernt der Mensch laufend von anderen; soziales Lernen vermeidet mühsames Ausprobieren. Doch woher kommt diese Fähigkeit, die Grundlage für kulturelles Lernen und damit den evolutionären Erfolg der menschlichen Spezies ist? Eine Studie unter Leitung von Markus Paulus belegt, dass sie in der frühesten Kindheit wurzelt. „Kinder erwerben die Fähigkeit zur Imitation, weil sie selbst von ihren Bezugspersonen imitiert werden“, erklärt der Entwicklungspsychologe. Lange galt in der Psychologie die Theorie, dass sie angeboren sei.

Paulus‘ Team untersuchte über mehrere Monate die Interaktion zwischen Müttern und Babys im Alter von sechs bis 18 Monaten. Je feinfühliger die Mutter mit ihrem sechs Monate alten Kind umging und je öfter sie es nachahmte, desto stärker war bei diesem ein Jahr später die Fähigkeit ausgeprägt, andere zu imitieren, erklärt Samuel Essler, Erstautor der Studie. Eltern gehen auf die Signale des Kindes ein, spiegeln und verstärken sie. „Über diese Erfahrungen verbindet sich das, was das Kind fühlt und tut, mit dem, was es sieht. Es bilden sich Assoziationen heraus. Das visuelle Erleben wird mit der eigenen motorischen Handlung verknüpft“, erläutert Paulus den neurokognitiven Prozess.

Die Studie zeigt zudem, was den Menschen als soziales Wesen ausmacht: Seine individuellen Fähigkeiten entwickeln sich erst durch die Interaktion mit anderen. Sie sind der besonderen Art zu verdanken, wie er seinen Nachwuchs aufzieht. „Kinder sind Imitationswunder. Das Nachahmen ebnet ihnen den Weg zu ihrer weiteren Entwicklung. Mit Imitation beginnt der kulturelle Prozess der Menschwerdung“, sagt Markus Paulus. „Indem Kinder Teil einer sozialen Interaktionskultur sind, in der sie imitiert werden, lernen sie von anderen zu lernen. Dieses Wechselspiel hat über Generationen und Jahrtausende zur kulturellen Evolution des Menschen geführt.“ Durch soziales Lernen müssten Handlungen oder bestimmte Techniken nicht immer wieder neu erfunden werden, sondern es gebe eine kulturelle Weitergabe von Wissen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Fähigkeit zur Imitation und damit zum kulturellen Lernen selbst ein Produkt kulturellen Lernens ist, insbesondere der Eltern-Kind-Interaktion“, sagt Paulus.
Current Biology, 2023

Foto: Vera Hiendl/e-conversion

Strukturen, die sich selbst bauen

DNA-Origami plus klassische Lithographie ermöglichen organische 3D-Nanostrukturen

Die Natur beherrscht das Prinzip der Selbstorganisation, indem sie molekulare Kräfte und elektrostatische Anziehung nutzt. Wie von Geisterhand bilden sich 3D-Strukturen mit interessanter Funktion: lichtsammelnde Komplexe für die Photosynthese etwa. Dieses Prinzip der Selbstorganisation nutzt ein Team um Irina Martynenko und Tim Liedl, um Oberflächen auf Nanometer-Maßstab zu funktionalisieren. Dazu kombiniert es lithographische Verfahren mit DNA-Origami. Die Anwendungen reichen von Biosensoren bis zu Solarzellen.
Nature Nanotechnology, 2023

Panoramaaufnahme des Pferdekopfnebels, der zum Sternbild Orion gehört. Foto: ESA/Euclid/Euclid Consortium/NASA, Bildbearbeitung: J.-C. Cuillandre, G. Anselmi, CC BY-SA 3.0 IGO

Das Licht ferner Welten

Weltraumteleskop Euclid liefert erste wissenschaftliche Bilder

Euclid, das neueste Weltraumteleskop der ESA mit hoher deutscher Beteiligung, hat heute seine ersten Farbfotos aus dem Weltall veröffentlicht. Nie zuvor konnte ein Teleskop so scharfe astronomische Bilder über einen so großen Himmelsbereich anfertigen und gleichzeitig so tief ins entfernte Universum blicken. Die fünf Bilder zeigen Euclids volles Potenzial. Sie verdeutlichen, dass das Teleskop in der Lage ist, die umfangreichste 3D-Karte des Universums zu erstellen, um einige seiner dunklen Geheimnisse aufzudecken. Die deutschen Mitglieder des Euclid-Konsortiums, darunter die LMU, sind an vorderster Linie an den Forschungen beteiligt und steuern zentrale technische Komponenten und logistische Dienstleistungen bei.

Neblige Amazonastäler schützen vor Dürre

Geographen analysieren Widerstandsfähigkeit feuchter Lebensräume

In den Senken des Amazonastieflands tritt besonders häufig Nebel auf, der feuchtigkeitsabhängige Pflanzen vor der Austrocknung bewahren kann. Wenn die globale Erwärmung vermehrt zu Dürren führt, bieten diese nebligen Täler einen schützenswerten Rückzugsort für die Artenvielfalt am Amazonas. Dies hilft auch dabei, den Regenwald als Bollwerk gegen den Klimawandel zu erhalten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt ein deutsch-belgisches Forschungskonsortium unter Leitung der Universität Marburg und der LMU.

„Bisher sind nur wenige Daten zu diesem schwer zugänglichen Lebensraum vorhanden“, erklärt LMU-Geograph Lukas Lehnert. „Unsere Studie beruht deshalb vor allem auf Satellitendaten.“ Tiefland-Nebelwälder seien über das ganze Amazonasgebiet verbreitet, doch nehme ihre Häufigkeit in der trockenen Jahreszeit ab. Am ehesten bleibe der Nebel in Landschaftssenken erhalten. „Auf Grundlage der Ergebnisse empfehlen wir dringend den Schutz dieser feuchten Rückzugsgebiete“, betonen die Autorinnen und Autoren.
Communications Earth & Environment, 2023

Foto: Ertürk Lab

Abwehr aus dem Schädelknochen

Neue Ansätze für Diagnose und Behandlung von Hirnerkrankungen

Millionen Menschen sind von Erkrankungen wie Alzheimer, Schlaganfall und Multiple Sklerose betroffen. Neuroinflammation ist ein gemeinsames Merkmal dieser Krankheiten. Die Überwachung dieser Entzündung ist schwierig, da das Gehirn durch Knochen und Membranen geschützt und daher schlecht zugänglich ist. Kürzlich wurden jedoch kleine Kanäle für die Bewegung von Immunzellen vom Knochenmark des Schädels zum Gehirn entdeckt. Ein Team um Demenzforscher Ali Ertürk hat nun festgestellt, dass diese sogar durch die äußerste und widerstandsfähigste Membranschicht verlaufen und Öffnungen näher an der Hirnoberfläche bilden als zuvor angenommen. Das Team fand zudem Zellen im Schädelknochen, die eine entscheidende Rolle bei der Immunabwehr spielen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Verbindung zwischen Schädel und Gehirn weitaus komplexer ist als bisher angenommen. „Dies eröffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Diagnose und Behandlung von Gehirnerkrankungen und hat das Potenzial, unser Verständnis von neurologischen Krankheiten zu revolutionieren“, meint Ertürk.
Cell, 2023

Ukraine-Krieg: Russlands Bot-Offensive

Bots verbreiteten zur Invasion gezielt pro-russische Propaganda

Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, begann auch ein digitaler Informationskrieg. In einer groß angelegten Studie hat ein Team um KI-Experten Stefan Feuerriegel die Verbreitung pro-russischer Propaganda auf der Plattform X untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Bots bei der Verbreitung und Vervielfältigung der Propaganda-Posts eine wesentliche Rolle spielen und bestimmte Länder gezielt adressieren. Bereits in früheren Konflikten nutzte Russland Social-Media-Kampagnen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die politische Polarisierung zu verstärken. „Hinweise, dass dies auch im Rahmen der Invasion der Ukraine der Fall ist, waren bisher weitgehend anekdotischer Natur“, sagt Feuerriegel. „Breit angelegte Studien fehlten bis dato. Diese Lücke haben wir nun geschlossen.“

Die Forschenden um Feuerriegel und Dominique Geißler analysierten 349.455 Twitter-Nachrichten mit pro-russischen Inhalten aus der Zeit zwischen Februar und Juli 2022. Sie konnten zeigen, dass Bots die Verbreitung pro-russischer Nachrichten massiv verstärkten. Insgesamt identifizierten die Forschenden rund 20 Prozent der Verbreiter solcher Nachrichten als Bots. Diese interagieren in stark vernetzten Retweet-Netzwerken und sorgen dafür, dass Inhalte verbreitet werden, die anderenfalls nicht viral gingen. Besonders aktiv waren die Bots in Ländern, die sich bei der UN-Resolution ES-11/1 zum Ukraine-Krieg am 2. März 2022 der Stimme enthalten hatten.
EPJ Data Science, 2023

Die Zahl: 84

Für Jäger-Sammler-Gemeinschaften aus Obermesopotamien waren Vögel zu Beginn der Jungsteinzeit eine wichtige Nahrungsquelle. Neben großen und kleinen Säugetieren bejagten die Menschen in Südostanatolien vor 11.000 Jahren auch das gesamte Spektrum an Vogelarten. Gejagt wurden sie vor allem, aber nicht ausschließlich, im Herbst und Winter, wenn viele Zugvogelarten größere Schwärme bildeten und das Gebiet durchquerten. Die Artenlisten sind daher sehr umfangreich: In der berühmten Ausgrabungsstätte der frühsteinzeitlichen Siedlung und weltweit ältesten Tempelanlage Göbekli Tepe etwa, rund 18 km nordöstlich der heutigen südanatolischen Stadt Şanlıurfa gelegen, fanden die Forscherinnen und Forscher Überreste von 84 Vogelarten. Nadja Pöllath, Kuratorin an der Staatssammlung für Paläoanatomie und Domestikationsforscher Joris Peters identifizierten die jungsteinzeitlichen Vögel mit Hilfe moderner Vergleichsskelette aus der Referenzsammlung der Staatssammlung.
Archaeological and Anthropological Sciences, 2023

Paläogenomik: Wildkatzen und Hauskatzen meiden sich weitgehend: Ein Team um LMU-Paläontologe Laurent Frantz und Greger Larson (Universität Oxford) hat mittels genetischer Analysen die Geschichte der Katzen in Europa untersucht. Foto: Saving Wildcats Current Biology, 2023

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Echt jetzt – Natürlich, künstlich: Die Grenzen verschwimmen

Nummer 2 / 2023

Zusammenhalten – Vom Wert der Kooperation

Nummer 1 / 2023

Ruf der Wildnis – Was die Natur von uns verlangt

Nummer 2 / 2022

Muster des Fortschritts – Was uns voranbringt

Nummer 1 / 2022

Raus ins Leben – Eine Generation nach dem Lockdown

Nummer 2 / 2021