„Personengruppen abholen, die sich bislang nicht für Politik interessieren, deren Teilhabe aber besonders relevant ist“: Genau darin liegt für Carsten Schwemmer die größte Chance, die in der Arbeit von politischen Influencern steckt. Foto: Stephan Höck
Die Petition von Johanna Röh lief schleppend. Als die Tischlerin und junge Mutter im Sommer 2022 versuchte, bei der Politik für einen Mutterschutz für Selbständige zu werben, hatte sie eine Woche vor Ablauf der Frist erst 5.000 der erforderlichen 50.000 Unterschriften gesammelt. Dann stellte die Influencerin Marie Nasemann die Petition vor – und berichtete davon, wie sie selbst als schwangere Selbständige, geplagt von schwerer Übelkeit, ihrer Arbeit nachgehen musste, weil es keinen Mutterschutz für sie gab. Andere Influencerinnen folgten ihrem Beispiel. Wenige Tage später hatte Röh die notwendigen Unterschriften beisammen. Sie konnte dank prominenter Hilfe mit ihrem Anliegen vor dem Petitionsausschuss des Bundestags vorsprechen.
Einblicke in den Alltag, oft subtil unterfüttert mit Werbebotschaften
Wie die Berufsbezeichnung schon verrät, üben Influencerinnen und Influencer einen – mitunter großen – Einfluss auf andere Menschen aus. Denn anders als Schauspieler aus der Fernsehwerbung wirken sie auf ihren Online-Kanälen meist authentisch und nahbar. Sie unterfüttern Einblicke in den eigenen Alltag oft subtil mit Werbebotschaften – und wecken auf diese Weise die Neugierde der Follower auf das angepriesene Produkt. Und inzwischen nicht mehr nur darauf.
LMU-Professor Carsten Schwemmer erforscht schon seit einigen Jahren dieses vergleichsweise neue Berufsbild. Er sagt: „Die Inhalte von Influencern haben sich politisiert.“ Anfangs machten Influencer vor allem mit Beiträgen zu Mode, Musik oder Fitness auf sich aufmerksam. Inzwischen thematisieren immer mehr Menschen mit großer Reichweite in ihren Videos und Beiträgen die Gefahren des Klimawandels, Feminismus oder andere gesellschaftspolitische Fragen. Wissenschaftler Schwemmer interessiert, welche Inhalte diese „politischen Influencer“ teilen und ob es ihnen gelingen kann, ihre Follower ebenfalls zu politisieren. Mit diesen Fragen setzt sich der Soziologe, der den Lehrbereich „Computational Social Sciences“ an der LMU leitet, in einem Pilotprojekt auseinander.
Doch keine wissenschaftliche Studie funktioniert ohne genaue Definitionen. Was also sind politische Influencer? „Je nach Lesart gehören auch Journalisten und sogar Politiker zu dieser Gruppe, können sie doch auch Einfluss nehmen auf die Wahlentscheidung anderer“, erklärt Schwemmer. Doch er selbst fasst den Begriff enger: Er konzentriert sich in seiner Arbeit auf Menschen, die in den Sozialen Medien als Privatperson in Erscheinung treten und wie konventionelle Influencer auch einen Einblick in ihren Alltag geben. Im Unterschied zu ihnen sprechen sie dabei jedoch nicht (nur) über Lifestyle-Themen.
Ein Beispiel für eine solche politisierte Influencerin ist Marie Nasemann, die einst als Model bekannt wurde, aber sich nicht nur für den Mutterschutz für Selbständige ausgesprochen hat, sondern auf ihrem Instagram-Profil etwa auch für gleichberechtigte Elternschaft wirbt. Auch Louisa Dellert erschloss sich neue Themen. Sie wandelte sich im Lauf der vergangenen zehn Jahre von der Fitnessinfluencerin zu einer auf Social Media präsenten Aktivistin für Nachhaltigkeitsfragen.
Ein CDU-kritisches Video machte ihn dem breiten Publikum bekannt
Der Youtuber Rezo, der auf seinem Kanal zunächst Musik und Comedy präsentierte, wurde einem breiten Publikum mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“ bekannt. Darin riet er vor der Europawahl 2019 explizit davon ab, die Christdemokraten zu wählen – und fand sich danach inmitten einer politischen Debatte über Klimaschutz und politische Teilhabe junger Menschen wieder.
Ein Thema für die Wissenschaft ist dieses Phänomen bislang offenbar selten gewesen, Arbeiten dazu gibt es nur wenige. „Allein schon die Tatsache, dass es keine einheitliche Definition für politische Influencer gibt, erschwert die Forschung“, sagt Schwemmer. Der LMU-Soziologe hat im Vorfeld der letzten Bundestagswahl im Herbst 2021 zusammen mit seiner Mitarbeiterin Magdalena Riedl politische Influencer im Sinne seiner Definition identifiziert. Sie fanden sie mithilfe von Hashtags, die in sozialen Medien bestimmte Inhalte verschlagworten, und über ein Schneeballsystem: Viele politische Influencer sind miteinander vernetzt oder teilen gegenseitig ihre Inhalte. Im Anschluss analysierten sie mit Methoden aus der Informatik die Texte, Fotos und Videos dieser Personen.
Sie fanden heraus, dass die Meinungsmacher um die Bundestagswahl herum mehr politische Inhalte teilten. Wobei sich auch politische Inhalte unterschiedlich breit fassen lassen. „Vergleichsweise selten sprechen sie eindeutige Wahlempfehlungen für bestimmte Parteien aus“, sagt Schwemmer. Häufiger hingegen finden sich Aufrufe, überhaupt zur Wahl zu gehen oder Beiträge, in denen Influencer für Produkte werben, die im weiteren Sinne als politisches Statement verstanden werden können – etwa für nachhaltige Mode. Denn auch politische Influencer verdienen ihr Geld oft über Kooperationen mit Unternehmen. „Es ist daher unmöglich, eine klare Grenze zu ziehen zwischen politischen und werblichen Inhalten“, sagt Schwemmer, „beides geht nahtlos ineinander über.“
Auch politische Influencer wie Marie Nasemann verdienen ihr Geld oft über Kooperationen mit Unternehmen. Eine klare Grenze zwischen politischen und werblichen Inhalten lasse sich meist schwerlich ziehen, sagt Carsten Schwemmer. Foto: Marcus Brandt/picture alliance/dpa
Was ist echter Enthusiasmus, was einem lukrativen Werbevertrag geschuldet? Die Frage, die Konsumenten wie Forschende schon bei konventionellen Influencern mitunter ratlos zurücklässt, stellt sich auch bei politischen Influencern. Ob dieser aus Überzeugung für Nachhaltigkeit plädiert oder das Fair-Fashion-Modelabel einfach gut bezahlt, bleibt für die Follower ungewiss. So wie generell kaum erforscht ist, was politische Influencer antreibt. „Die Studien, die es dazu gibt, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen“, sagt Schwemmer. Als ein Motiv gilt die Selbstdarstellung, als ein anderes der Wunsch, die eigene Reichweite zu nutzen, um andere zu politischer Teilhabe zu animieren.
Die größte Chance, die in der Arbeit von politischen Influencern steckt, liegt für Schwemmer genau darin, „Personengruppen abzuholen, die sich bislang nicht für Politik interessieren, deren Teilhabe aber besonders relevant ist.“ Er denkt dabei vor allem an junge Menschen. Studien und Umfragen zeigten, dass es authentische und persönliche Inhalte brauche, um junge Menschen mit Politik anzusprechen. Auch wünschen sie sich, dass ihnen Politik in einfachen Worten erklärt wird. „Beides ist die Stärke und das täglich Brot von Influencern“, sagt Schwemmer.
Influencer lassen viele an Werbung, Produktnähe und Kommerz denken
Kein Wunder, dass auch politische Parteien längst ausloten, wie sie die Macht politischer Influencer oder deren Methoden für sich nutzen können. Vor der letzten US-Wahl hat der Präsidentschaftskandidat Michael Bloomberg mit einer Influencer-Marketing-Agentur zusammengearbeitet und von ihr Memes generieren lassen. Ein Meme ist meist ein Foto mit humorigem Inhalt, das sich schnell im Internet verbreitet. „Auch in Deutschland lernen politische Parteien von Influencern, ihre Inhalte auf die Sozialen Medien anzupassen, oder nutzen selbst Personen, die Inhalte im ,Influencerstil‘ teilen“, sagt Carsten Schwemmer. Die CSU beispielsweise versuchte schon vor einigen Jahren mit einem eigenen Influencer eine Antwort auf das Rezo-Video zu geben – erntete damals dafür allerdings eher Spott. Dennoch bekundete die Partei wiederholt ihr Interesse an der Arbeit von Influencern und postet weitere eigene Videos etwa auf TikTok.
„Politische Parteien lernen von Influencern, ihre Inhalte auf die sozialen Medien anzupassen, oder nutzen selbst Personen, die Inhalte im ,Influencerstil‘ teilen.“
Wie die potenziellen Wählerinnen und Wähler auf die Inhalte von Influencern reagieren, hat der Soziologe mit seinem Pilotprojekt ebenfalls erforscht. Er befragte drei Wochen nach der Wahl gut 1.100 Menschen zu ihrer Wahrnehmung von
Influencern. Dabei zeigte sich: 72 Prozent kennen den Begriff, assoziieren ihn aber vor allem mit Begriffen wie „Werbung“, „Produkt“ oder „Geld“ anstatt mit politischen Inhalten. Der Einfluss von Social-Media-Persönlichkeiten auf die Wahlentscheidung ist demnach verglichen mit klassischen Medien wie TV, Zeitungen oder auch Wahlwerbung relativ gering. „In absoluten Zahlen sehen wir dennoch ein Potenzial, das groß genug wäre, um Wahlen zu entscheiden“, sagt Schwemmer.
Dieses Potenzial, warnt der Soziologe, könnten auch Menschen nutzen, die es sich zum Ziel machen, antidemokratische Inhalte zu teilen. Er hat zwar beobachtet, dass sich ein Großteil der Meinungsmacher auf Social Media im demokratischen Spektrum aufhält – vor allem in der politischen Mitte und links davon. Doch zwischen ihnen tummelten sich auch Menschen, die extremistisches Gedankengut, Esoterik oder Verschwörungsideologien teilten. Als Beispiel nennt er Heiko Schrang mit dessen Youtube-Kanal und Instagram-Account.
Doch gerade weil es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, ob politische Influencer neues Vertrauen in Politik schaffen können oder eher das Gegenteil erreichen, ist für Carsten Schwemmer die Europawahl im kommenden Jahr ein weiterer Prüfstein dafür, was sich Influencer an politischer Einflussnahme einfallen lassen.
Felicitas Wilke
Prof. Dr. Carsten Schwemmer ist Professor für Computational Social Science am Institut für Soziologie der LMU. Schwemmer, Jahrgang 1988, studierte Soziologie an der Universität Bamberg, wo er auch promoviert wurde. Nach Stationen an der Universität Konstanz, am Weizenbaum-Institut, Berlin, der Universität Stuttgart und der Princeton University, USA, hatte er eine Vertretungsprofessur in Bamberg, danach war er Gruppenleiter am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim, bevor er 2022 an die LMU berufen wurde.
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