Queere Menschen werden in Deutschland immer noch häufig diskriminiert – selbst in der Medizin. Das fängt bereits im Kleinen an. „Mein Arzt hat immer von meiner Partnerin gesprochen“, erzählt zum Beispiel LMU-Medizinstudent Dario Ponto. „Dabei habe ich ihn mehrfach korrigiert, weil ich schwul bin und damals einen Partner hatte.“ Seine Kommilitonin, Verena Richter, hat während ihrer Zeit in der Notaufnahme erlebt, wie Frauen sich als lesbisch outen mussten. Die Ärzteschaft glaubte den Patientinnen sonst oft nicht, dass die Bauchschmerzen definitiv nicht von einer Schwangerschaft kommen können.
Zahlen untermauern diese Aussagen: Laut einer Studie der European Agency for Fundamental Rights von 2020 sind 20 Prozent der queeren Personen in den letzten zwölf Monaten im Gesundheitssystem diskriminiert worden. Bei transgender und intergeschlechtlichen Personen haben sogar 41 Prozent körperliche und psychische Gewalt erlebt. „So jemanden wie Sie behandele ich nicht“, heiße es dann zum Beispiel, erklärt Dario Ponto. Dabei sind gerade diese Menschen besonders abhängig von medizinischem Fachpersonal und entsprechenden Gutachten.
Dario Ponto wollte diese Situation nicht länger akzeptieren. Natürlich konnte er nicht die Einstellung der Ärzteschaft zu Minderheiten verändern. Aber immerhin die Ausbildung des Nachwuchses. Bisher wurde im Medizinstudium in klausurrelevanten Vorlesungen nur einmal über queere Menschen gesprochen: beim Thema HIV bei schwulen Männern. Also entschied sich der 24-Jährige, das Wahlfach „Medizin und LGBTIAQ*“ ins Leben zu rufen. Und fand mit der Professorin Martha Merrow vom Institut für Medizinische Psychologie der LMU eine „engagierte Verbündete“.
Die Lehrstuhlinhaberin aus den USA lehrt schon lange zum Thema Rassismus im Gesundheitswesen – obwohl sie nicht explizit dazu forscht und es auch kein offizielles Lehrmaterial gibt. An der LMU hält sie unter anderem eine nicht klausurrelevante Vorlesung zum Thema „Medicine and Culture“, wo das Thema LGBTIAQ* zumindest angeschnitten wird. „Im Anschluss kam ein Student zu mir und sagte: ‚Das reicht nicht‘“, erinnert sich Merrow. Der Student war Dario. Und er überzeugte sie schnell, gemeinsam ein LGBTIAQ*-Wahlfach für Medizinstudierende zu entwickeln. Denn er war nicht der erste Student mit dieser Bitte.
Das Wahlfach bleibt ein fester Bestandteil der Ausbildung
„Dario hat ein sehr professionelles Team mitgebracht“, lobt Merrow. Das kommt nicht von ungefähr. Der Student ist Teil des Vorstands bei diversity München, einem queeren Jugendzentrum. Der Verein betreibt auch Aufklärungsarbeit über queere Lebensweisen an Schulen beziehungsweise Hochschulen und organisiert Multiplikatorenveranstaltungen. Dadurch und durch Tutorenleitfäden beziehungsweise aufgezeichnete Vorlesungen soll das Wahlfach reproduzierbar werden, also auch zur Verfügung stehen, wenn Dario nicht mehr an der LMU ist.
Das Wahlfach wird inzwischen einmal pro Semester angeboten. Dabei werden rechtliche Aspekte beleuchtet, Vorträge von verschiedenen Fachleuten zum Beispiel zum Adoptionsrecht von Regenbogenfamilien gehalten und medizinische Fragen beantwortet. Diese betreffen insbesondere hormonelle Behandlungen, geschlechtsangleichende Operationen oder Kinderwunsch. Außerdem wird mit Fallbeispielen eine diskriminierungsfreie Kommunikation trainiert. Rund 150 Studierende haben in den letzten zwei Jahren das Wahlfach besucht.
Dadurch wird die Ärzteschaft natürlich nicht von heute auf morgen queerfreundlich. Zumal es an anderen Hochschulen noch nicht einmal ein solches Wahlfach gibt. Das muss sie aber auch nicht, betont Dario. „Es reicht, wenn jede queere Person einen Hausarzt, einen Urologen und so weiter hat, der queerfreundlich ist.“ Bei einer Zahnuntersuchung zum Beispiel lasse sich ein Outing sowieso meistens vermeiden. Das Wahlfach sei daher für Klasse statt Masse ausgelegt. „Wir wollen lieber nur die Menschen schulen, die sich später umso mehr für die queere Community einsetzen.“
Die Ausbildung soll um queere Zusatzmodule erweitert werden
Außerdem versuchen Dario und sein Team, die medizinische Ausbildung, die alle Studierenden durchlaufen müssen, nachhaltig um queere Aspekte zu erweitern. Gemeinsam mit dem Institut für Medizinische Psychologie wurde daher beim Themenblock „Komplizierte Gesprächssituationen“ ein Zusatzmodul implementiert. Dabei wird den Studierenden beigebracht, wie sie mit unerwarteten Wendungen in Gesprächen mit Patientinnen und Patienten umgehen. In andere Kurse wurde ein Modul eingefügt, das sich dem Thema Stress und (Psycho-)Therapie zur Behandlung von Depressionen widmet. Infolge dieses zusätzlichen Lehrstoffs wurden in den letzten beiden Semestern mehr als zwei Drittel (rund 600) der vorklinischen Medizinstudierenden mit dem Thema LGBTQIA* in der Medizin konfrontiert.
Bei den Studierenden kommt das Wahlfach an, in der Evaluation bewerteten es 97 Prozent der Teilnehmenden mit der Schulnote gut oder sehr gut. Auch beim Lehrpersonal rennt Merrow mit dem mutigen Schritt offene Türen ein. „Die meisten Kolleginnen und Kollegen sind froh, dass sich jemand dem Thema angenommen hat.“ Da dies auch von der Bundesregierung gefordert werde, profitiere davon schließlich auch die Fakultät. Kürzlich hat Verena sogar einen Workshop für Lehrpersonen in der Biochemie durchgeführt. Dabei hätten der 26-Jährigen 30 Professorinnen und Professoren und Dozierende, die sie kürzlich noch unterrichtet haben, wissbegierig zugehört. „Es gibt unfassbar viele Menschen“, sagt sie, „denen ihre Unwissenheit bewusst ist und die dankbar sind, wenn ihnen jemand ihre Fragen beantwortet.“
> dl
0 Kommentare