Wie Forschende Holocaust-Zeugnisse digital bewahren

Erinnern durch E-Learning

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Das E-Learning-Projekt „Musik im KZ Theresienstadt“ soll Schülerinnen und Schülern Grundlagenwissen über das Lager vermitteln.

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Mit virtuellen Zeitzeugnissen konservieren LMU-Forschende die Erinnerung an das Grauen des Nationalsozialismus. Im E-Learning-Projekt „Musik im KZ Theresienstadt“ werden Interviews mit Überlebenden für Schülerinnen und Schüler aufbereitet, bei „Voices from Ravensbrück“ für Forschende. 

Mit ein paar Klicks gelangt man in das virtuelle Konzentrations­lager Theresienstadt. Dort trifft man die Überlebende Dr. Michaela Vidláková, sieht Ausschnitte eines Propagandafilms der Nazis, hört aber auch die wunderbare Musik, die seinerzeit in Theresienstadt komponiert wurde. Das E-Learning-Projekt „Musik im KZ Theresienstadt“ des Jewish Chamber Orchestra Munich soll Schülerinnen und Schülern Grundlagenwissen über das Lager vermitteln – und über Kunst und Kultur, die dort entstanden sind.

Die Idee dazu hatte Daniel Grossmann, Gründer und Dirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich. „Dass im KZ Theresienstadt ein umfangreiches kulturelles Leben stattfand und sogar zahlreiche Werke dort komponiert und uraufgeführt wurden, ist wenig bekannt“, erklärt er. „Als Dirigent bedeutet es mir sehr viel, der Erinnerung an diese Künstlerinnen und Künstler gerecht zu werden.“ 

Entwickelt wurde die Plattform in Kooperation mit der LMU und der Technischen Universität München (TUM). „Schon länger beschäftigen wir uns mit digitalen Tools zur Holocaust Education“, erklärt Germanist Ernst Hüttl, der das Projekt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutschdidaktik auf LMU-Seite betreute. „Im Projektverbund LediZ beispielsweise wurden unterschiedliche interaktive Zeitzeugnisse entwickelt.“ So können 3D-Projektionen von Holocaust-Überlebenden mithilfe von Sprachverarbeitung auf Fragen antworten. Und „Abba‘s Hub“ stellt die Lebensgeschichte des litauischen Holocaust-Überlebenden Abba Naor als begehbare Zeitleiste mit 3D-Umgebung dar.

„Die Weise von Liebe und Tod“ in 360 Grad 

Die neue Plattform „Musik im KZ Theresienstadt“, in die man sich mit VR-Brille, aber auch am Smartphone oder Computer begeben kann, sei ein „sehr kompaktes Lernpaket“, so Hüttl. Darin geht es auch um die ambivalente Seite der Musik in Theresienstadt – als Propagandamittel für die Täter, aber auch als Überlebenswerkzeug für die Inhaftierten. Im Fokus standen Leben und Werk Viktor Ullmanns, eines Komponisten, der im KZ Theresienstadt komponierte, bevor er in Auschwitz ermordet wurde.

Drei virtuelle Räume, entwickelt von Studierenden der Architekturinformatik der TUM, repräsentieren die Lebensgeschichte Ullmanns. Hüttl selbst bereitete sie technisch auf und befüllte sie mit Medien: historischen Fotos, Quellentexten, Audiobeispielen und Interviews. 

Mithilfe dieser Medien beantworten die Schülerinnen und Schüler Fragen und erhalten bei richtiger Antwort Zugang zum nächsten Raum. Am Ende des Quiz gelangen sie zu einem 360-Grad-Video
einer Aufführung des Jewish Chamber Orchestra Munich in Theresien­stadt. Dirigent Grossmann hatte das KZ dafür mit seinen Musikern besucht und sie räumlich getrennt positioniert – im Waschzimmer, Schlafräumen oder dem Theatersaal. So wurde die letzte Komposition Viktor Ullmanns „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ aufgeführt – eine visuell wie akustisch eindrucksvolle Aufzeichnung. 

Transkription mit Künstlicher Intelligenz

Aus anderer Perspektive befasst sich Dr. Christoph Draxler vom Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung der LMU mit Holocaust-Zeugnissen. In dem Projekt „Voices from Ravensbrück: The Value of Multilingual Oral History” bereitete er mit Kolleginnen und Kollegen aus Italien und den Niederlanden Zeitzeuginnen-Interviews für die Forschung auf. „Das KZ Ravensbrück bei Berlin war als reines Frauen­lager mit Inhaftierten aus über 30 Ländern ein sehr spezielles, multilinguales Lager“, erklärt der Informatiker und romanistische Linguist, der sich seit Langem mit Webtools für phonetische Forschung, Abfrage­methoden in Sprachdatenbanken sowie Dialektologie befasst. 

Ausgangspunkt des Projekts waren Interviews mit Überlebenden des KZ, die in den 70er-Jahren in Italien aufgenommen worden waren. Das Forschenden-Team digitalisierte die Tonbandaufnahmen, sammelte weitere Interviews aus verschiedenen Ländern der Welt und bereitete sie für die Forschung auf. 

Draxlers Part war dabei die Verschriftlichung. „Die Wortfehlerrate heutiger Transkriptions-Programme ist dank Künstlicher Intelligenz sehr vielbesser geworden“, so Draxler. „Was KI noch nicht kann – die wissenschaftliche Transkription aber leisten muss –, ist das Erkennen von Häsitationen, Wiederholungen oder Satzabbrüchen. Denn diese Phänomene sind für das Verständnis der Gesprächssituation entscheidend.“ Bei der Transkription der Zeitzeugen-Interviews müsse das Programm zudem mit berücksichtigen, dass bei den sehr persönlichen Geschichten keine Persönlichkeitsrechte des Interview­partners oder Dritter verletzt würden.

Mehr als abstrakte Zahlen 

Zusammengeführt wurden die Interviews und Transkripte auf
CLARIN, der europäischen Plattform für Sprachforschungsdaten. In einem neuen „Oral History“-Bereich, der auf der Arbeit von Draxler und seinen Projekt-Partnerinnen und -Partnern basiert, können Forschende nun entsprechende Zeitzeugnisse erfassen und auffinden sowie über Sprachdaten, die es in Archiven weltweit zu Ravensbrück gibt, recherchieren. Damit auch Forschende ohne IT-Kenntnisse Transkriptions-Software für Zeitzeugengespräche nutzen können, testete man im Rahmen des Ravensbrück-Projekts ein selbst ent­wickeltes, „radikal einfach zu bedienendes“ Programm – bei gleicher Fehlerrate, als würde man es selbst abtippen.

„Allein über das Unterrichten abstrakter Zahlen kann man die Tragödie des Holocaust nicht vermitteln“, erklärt Dirigent Daniel Grossmann. „Aus einer jüdischen Familie stammend, die in weiten Teilen vernichtet wurde, ist mir die Erinnerung an einzelne Opfer des Holo­caust sehr wichtig.“

>  ajb

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