Eine andere Kultur: Für Menschen aus dem Volk der Runa ist es selbstverständlich, dass Bäume denken; sie sind sich sicher, dass im Wald übersinnliche Wesen existieren. Francesca Mezzenzana untersucht, wie Kinder im Regenwald mit der Natur zu leben lernen. Foto: Oliver Jung
Grün, grün, grün, so weit das Auge reicht. Bäume, Büsche, Lianen in vielfältigen Schattierungen, dazwischen bunte Tupfen von Blüten und riesigen Schmetterlingen. Der Regenwald im Amazonas-Gebiet Ecuadors gilt als eine der artenreichsten Regionen der Welt: Unzählige Vogelarten, vom kleinsten Kolibri bis zu den mächtigen Harpyien, einer der größten Greifvogelarten der Welt, beeindruckende Säugetiere wie Jaguare, Affen, Faultiere, Tapire, Gürteltiere und Seekühe, aber auch Reptilien wie Kaimane oder riesige Anacondas.
Stark geprägt von den Prozessen der Globalisierung
Doch es ist nicht das Naturschauspiel, das Francesca Mezzenzana immer wieder in die Urwälder Ecuadors zieht. Es sind die Menschen, die dort zum Teil weit abgelegen inmitten des unendlichen Grüns leben. Menschen, aus dem Volk der Runa, für die es selbstverständlich sind, dass Bäume denken und selbst Regenwürmer miteinander kommunizieren. Menschen, die sich sicher sind, dass im Wald übersinnliche Wesen existieren, die ihnen etwa im Traum erscheinen und Befehle erteilen. Mezzenzana ist Anthropologin und reist bereits seit 2011, also seit ihrer Zeit als Doktorandin an der London School of Economics and Political Science, immer wieder in das Amazonas-Gebiet. Dort lebt sie dann bei Freunden und deren Familien aus dem Volk der Runa – mal in eher stadtnaher Umgebung, mal weit abgeschieden im Dschungel. Sie erforscht, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen und sich als Individuen in ihrer Gemeinschaft entwickeln.
Seit Sommer 2021 ist sie am Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft der LMU tätig – mit einem ambitionierten Projekt: „Wir wollen wissen, wie sich die Umgebung von Kindern darauf auswirkt, welche Beziehung sie zu Tieren und Pflanzen entwickeln, also zur nichtmenschlichen Natur“, umschreibt sie es in Kürze. Gehen Kinder, die im Dschungel des Amazonas aufwachsen, anders mit ihrer Umwelt um als Altersgenossen, die beispielsweise in München groß werden und in den behüteten Räumen ihrer Kita oder auf Spielplätzen tollen und Tiere eher aus Büchern oder vom Zoobesuch kennen als aus ihrem Alltag?
Auch wenn Francesca Mezzenzana mit dem Motorboot oft mehrere Tage braucht, um die entferntesten dieser Siedlungen zu erreichen, heiße zwar, dass die Runa zwar physisch fernab großer Agglomerationen leben. Das bedeute aber nicht, dass sie keine Verbindung zur globalen Welt hätten, stellt sie klar. Einige der Gemeinschaften leben von der Subsistenzwirtschaft und der Jagd, aber praktisch der Alltag jedes Einzelnen ist stark von den Prozessen der Globalisierung geprägt. Die Jugendlichen besuchen zweisprachige Schulen, sprechen Spanisch und Amazonian Kichwa, eine regionale Form des Ketschua; auch Mezzenzana kommuniziert in beiden Sprachen mit den Runa. Sie hat Kichwa im Laufe der Jahre gelernt. Die Jugendlichen sind vertraut mit digitaler Technologie und sozialen Medien. „Ein interessanter Mix“, findet die Anthropologin
„Es ist für mich unvorstellbar, dass sich die enge Beziehung der Kinder zu Lebewesen nicht auf ihre weitere Entwicklung auswirkt.“
Was steuert das Verhalten gegenüber unserer Umwelt?
Welche Beziehung Kinder in ihrer Umwelt zu Tieren und Pflanzen entwickeln – solche Fragen sind besonders vor dem Hintergrund des Artensterbens und des Klimawandels relevant. Denn wenn es darum geht, wie wir in Zukunft mit unserem Planeten umgehen wollen, gilt es auch herauszufinden, was das Verhalten gegenüber unserer Umwelt steuert. Und gerade hier können wir möglicherweise viel von den Völkern lernen, deren Lebensweise so eng verwoben ist mit der anderer Lebewesen. Nicht umsonst war Ecuador das erste Land, das 2008 Naturrechte in seiner Verfassung verankert hat. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass indigene Völker die Natur beziehungsweise Teile der Natur personifizieren. Entscheidungen über Straßenbau, Abholzung zu wirtschaftlichen Zwecken oder Ausbeutung natürlicher Ressourcen erhalten so eine andere Bedeutung – und kommen möglicherweise zu einem anderen Ergebnis. Umgekehrt lässt sich argumentieren, dass die Sichtweise der Menschen in westlichen Industrienationen, die die Natur zum Objekt macht, einen Anteil hat an Zerstörung, Klimawandel und Artensterben trägt. Wer keine Beziehung hat zu Tieren, Pflanzen und Ökosystemen, wird sie möglicherweise eher ausbeuten und engagiert sich weniger für ihrem Schutz, gerade dann, wenn dies einen gewissen Verzicht auf Luxus und Annehmlichkeiten verlangt.
Vor diesem Hintergrund kann es entscheidend werden für die Zukunft der Menschheit, dass wir die Lebens- und Denkweise anderer Kulturen nicht nur neugierig beobachten. Wir müssen uns auch darüber klar werden, dass andere Völker andere Sichtweisen und Philosophien vertreten – damit aber nicht falsch liegen müssen. Weil es mehrere Weisen geben kann, eine Situation zu betrachten. Und weil vielleicht verschiedene Lösungswege zum selben Ziel führen.
Mezzenzana hat dies selbst bei ihren Aufenthalten bei den Runa immer wieder erlebt. „Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als ich vor einigen Jahren erstmals mit meinem damals vier Monate alten Sohn dort war“, erinnert sie sich. Sie sei damals völlig übermüdet gewesen. Eine Frau aus dem Dorf war an sie herangetreten und hatte ihr wie selbstverständlich erklärt, sie würde das Baby jetzt für einige Wochen mitnehmen und sich darum kümmern, damit Mezzenzana schlafen und ihrer Arbeit nachgehen könne. Die gebürtige Italienerin war entsetzt, wie es wohl die meisten Europäerinnen gewesen wären. „Ich bin bei der Vorstellung ausgeflippt, das kam für mich auf keinen Fall in Frage“, sagt sie. „Aber keiner meiner Runa-Freunde hat meine Reaktion verstanden, für sie war das Angebot völlig normal.“
Die Wissenschaftlerin hat ihr Baby bei sich behalten. „Aber diese Situation hat mich auch zum Nachdenken gebracht, denn die Runa vertrauen immer wieder anderen Personen im Dorf ihre Kinder an“, sagt sie. „Und letztlich nehmen die Kinder dabei keinen offensichtlichen Schaden, sondern wachsen zu gesunden und glücklichen Mitgliedern ihrer Gesellschaft heran.“ Das solle nicht heißen, dass unsere Vorstellungen von Bindung und verlässlicher Bezugsperson falsch seien. Aber man müsse in Betracht ziehen, dass dies möglicherweise nicht der einzige Weg ist, der Menschenkinder gut heranwachsen lässt.
Anders als in den behüteten Räumen einer deutschen Kita
„Die Kinder der Runa lernen auch ganz anders als Kinder bei uns in Mitteleuropa oder in den USA“, berichtet Mezzenzana. „Erwachsene bringen Kindern eigentlich nicht ausdrücklich Dinge bei oder halten sie dazu an, über ihr Verhalten nachzudenken.“ Vielmehr lernen die Kleinsten dort im Dschungel durch Ausprobieren. „Wenn ein Kind fischen lernen will, geht es zum Fluss und probiert es so lange, bis es klappt“, erzählt die Anthropologin. „Und die Erwachsenen haben Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten – auch wenn das heißt, es am Fluss allein zu lassen.“
Es scheint naheliegend, dass Kinder sich in einer solchen Gesellschaft anders erleben als die (über)behüteten Kleinen in München, Rom oder New York. Welchen Unterschied mag es also für die Beziehung der Kinder zur Natur machen, wenn sie ganz natürlich mitten in ihr aufwachsen? Ganz anders, als viele Kinder in westlichen Industrienationen, die in speziellen Unterrichtseinheiten Bewusstsein und Verantwortung für die Natur lernen sollen, weil sie in ihrem alltäglichen Umfeld nur wenig Berührungspunkte mit Wildtieren und Pflanzen haben?
Tatsächlich sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler uneins darüber, wie sehr das Ausmaß, in dem Kinder in ihrem natürlichen Umfeld mit Tieren und Pflanzen interagieren, ihr späteres Konzept von der Natur prägt. Die landläufige Annahme ist, dass Kinder überall auf der Welt ein vergleichbares Verständnis für physikalische oder biologische Phänomene mitbringen, das eigentliche Konzept dagegen erst später durch Erziehung und Gesellschaft geprägt wird.
Für diese Annahme spricht eine ganze Reihe von Studien. Diese belegen, dass bereits Säuglinge mit ihrem Blick eher belebten Wesen folgen als unbelebten. Und dass sie irritiert sind, wenn Bausteine im Bild in einer Art und Weise übereinandergestapelt sind, so dass sie eigentlich – der Schwerkraft folgend – abstürzen müssten. Das Problem solcher Studien ist aber, dass an ihnen in der Regel ausschließlich Babys aus westlichen Industrieländern teilnehmen. „80 Prozent der Menschheit leben aber nicht in westlichen Städten“, sagt Mezzenzana. Die Ergebnisse solcher Studien lassen sich daher möglicherweise nicht generalisieren.
Francesca Mezzenzana will hier einen Schritt nach vorne machen und hat eine große vergleichende Studie konzipiert. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern wird sie in den nächsten Jahren ganz verschiedene Kinder beobachten; solche, die bei indigenen Völkern im Amazonasgebiet Ecuadors oder in Chile in einer naturverbundenen Umgebung aufwachsen, solche, die in einem urbanen Umfeld in den USA großwerden, aber auch Kinder aus einem Ökodorf in Italien, die zwar nach den Maßstäben westlicher Industrienationen leben, aber deren Umfeld besonderen Wert auf bewusste Umwelterziehung legt. „Das ist die weltweit erste vergleichende anthropologische Studie, die dieser Fragestellung nachgeht“, unterstreicht Mezzenzana die Bedeutung ihres Forschungsvorhabens.
Die Wissenschaftlerin ist überzeugt davon, dass das Umfeld einen deutlichen Einfluss hat auf die Konzepte, die Kinder in Bezug auf die nichtmenschliche Natur entwickeln – und darauf wie sie sich ihr gegenüber verhalten. Dennoch: Auf die einfache Formel „Naturnahe Umgebung und personalisierte Natur gleich umweltbewusstes Verhalten“ lässt sich die Sache vermutlich nicht herunterbrechen. So weiß man aus archäologischen Untersuchungen, dass bereits Jäger und Sammler vor Jahrtausenden irreversible Spuren in der Natur hinterlassen haben – wenn auch nicht mit dem Ausmaß heutiger Eingriffe.
„Die Kinder der Runa lernen ganz anders als Kinder bei uns. Erwachsene dort bringen ihnen eigentlich nicht ausdrücklich Dinge bei oder halten sie dazu an, über ihr Verhalten nachzudenken. Wenn ein Kind fischen lernen will, geht es zum Fluss und probiert es so lange, bis es klappt.“
Empathie für Tiere und Pflanzen aus der alltäglichen Umgebung
Mehr noch: Allein die Grundannahme, dass Tiere und Pflanzen Gefühle und Wünsche haben, führt noch nicht zum „Umweltschutz“, um es auf einen westlichen Begriff zu bringen. Das hat Mezzenzana in einer früheren Studie herausgefunden. Dazu hat sie mit Runa-Familien zusammengelebt und die Kinder beim Spielen und Geschichtenerzählen beobachtet. „Zuerst habe ich mir angeschaut, wie sich Kinder nichtmenschliche Wesen vorstellen, dann habe ich untersucht, wie sie im Alltag Empathie für sie aufbringen konnten“, erklärt Mezzenzana. Dabei stellte sich heraus, dass die Kinder Tieren und Pflanzen zwar Handlungsfähigkeit zusprachen, dies aber nicht zwingend zu einer größeren Fürsorge für alle Arten von Lebewesen führt. Empathie ist eben nicht gleichbedeutend mit Sympathie oder Fürsorge. Interessant auch: Während die Dschungelkinder eher Empathie für Tiere und Pflanzen aus ihrer alltäglichen Umgebung aufbringen, fühlen sich westliche Kinder häufig aus Sympathie mit Löwen, Giraffen oder Walen verbunden – Tieren, die sie nur aus Filmen und Büchern kennen.
Nicht nur ein Zoobesuch ab und zu oder ein Bilderbuch vom Bauernhof
Mezzenzana ist überzeugt, dass ein Aufwachsen inmitten der Natur bei Kindern andere Spuren hinterlässt, als ein gelegentlicher Zoobesuch oder ein Bilderbuch vom Bauernhof. Im letzten Sommer war die Forscherin wieder im Urwald in Ecuador. Dort verbrachte sie unter anderem eine ganze Woche mit einer Mutter und ihrem wenige Monate alten Säugling und nahm die beiden für spätere Analysen auf Video auf. Das Kind verbrachte nur wenig Zeit im Haus und beschäftigte sich nur äußerst selten mit einem herkömmlichen Spielzeug. „Meistens war es draußen in der Natur auf dem Boden und hat selbst im Haus mit Pflanzen, Käfern oder Eidechsen gespielt“, berichtet Mezzenzana. „Es ist für mich unvorstellbar, dass sich diese enge Beziehung zu Lebewesen nicht auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirkt.“
Stefanie Reinberger
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