Der erste Aussteiger
Leben in und mit der Wildnis: Über den schillernden Autor und Philosophen Henry David Thoreau

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Abenteuer vor der Haustür: Zwei Jahre verbrachte Henry David Thoreau im Wald, drei Kilometer von seinem Geburtsort entfernt. Foto: Oliver Jung

Am 12. September 1920 erschien in der New York Times ein Artikel, der sich mit der faszinierenden, aber auch sperrigen Persönlichkeit Henry Thoreaus auseinandersetzte. Der Autor, damals schon fast 60 Jahre tot, galt als schillernder Solitär, dem die Menschen gleichermaßen mit Verwunderung wie Bewunderung begegneten: als ein exzentrischer Sonderling, dessen extremer Lebensentwurf und seine Schriften provozierten, vor allem das Buch Walden über seine mehr als zweijährige Auszeit in den Wäldern.


Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, hatte der 1817 in Concord, Massachusetts, geborene und 1862 dort auch gestorbene Henry David Thoreau keine drei Kilometer von seinem Geburtshaus entfernt eine Blockhütte im Wald bezogen, die er sich am Walden Pond auf einem Grundstück des Schriftstellers Ralph Waldo Emerson eigenhändig errichtet hatte, die „Walden Hut“. Hier lebte er allein und autark auf etwa zwölf Quadratmetern. Er hielt sporadischen Kontakt zur Gemeinde in Concord, um dort etwa für 2,43 Dollar „zwei Fenster mit Glas (aus zweiter Hand)“ und für vier Dollar „tausend alte Backsteine” zu kaufen, wie er minutiös notierte. Das ganze Haus hat ihn demnach 28,12 Dollar gekostet, inklusive Transportkosten: „Das meiste trug ich auf meinem Rücken.“

Eine Ikone der amerikanischen Pop-Kultur

Der Sohn eines Bleistiftfabrikanten, Harvard-Absolvent und zeitweise Schulmeister, wurde schon zu Lebzeiten ein bekannter Autor, Philosoph und Redner. Klaus Benesch, Inhaber des Lehrstuhls für Nordamerikanische Literatur an der LMU und derzeit „LMU International Research Professor“ an der Harvard University, hat Thoreaus Schriften erforscht. Er nennt ihn in einem Atemzug mit Marlon Brando, James Dean und Elvis Presley und beschreibt ihn als eine „Ikone der amerikanischen Pop-Kultur”, die ihren Status über einen Ort erlangt habe: eben jenen Walden Pond. Ein Ort, der mittlerweile zu einem „Woodstock” für die „Abenteuer vor der Haustür“ wurde, wie es im Werbeslogan für den Geo-Titel „WALDEN“ heißt, eine Magazinreihe, die nach Thoreaus Refugium benannt ist.

„Thoreau und sein kompromissloser ‚Way of Life‘“, sagt Benesch, „sind bis heute Inspiration und Vorbild für all jene, die an die Kraft individueller Rebellion, spiritueller Eigenständigkeit und an die Bedeutung eines wachen Bewusstseins für die Umwelt glauben.“ Benesch hat Thoreau und seine ortsgebundene Lebensweise in vielen Essays gewürdigt, etwa zu seiner „Platial Iconity“ („Where I Have Lived, and What I Lived For?“), im Kontext der „Modern Politics of Space“ („Cultural Immobility“), der Konfrontation von Natur und Kultur („Day and Night“), dem Einfluss auf die amerikanische Architektur („How I Built This“), aber auch zur Erschließung der Welt im Wandern („Modern/s Walking“). Der Literaturwissenschaftler beschreibt auch die unterschiedlichen Textgenres, die Thoreau bedient: Essays, Reden, Reiseberichte, philosophischen Schriften, eine Autobiographie, unzählige Seiten Korrespondenz und mehr als 7.000 Seiten Tagebuch-Einträge.

„Alles, was die natürlichen Kreisläufe von Geben und Nehmen überschreitet und Mensch und Natur nicht gleichberechtigt, wird von Thoreau strikt abgelehnt.“

Scharfsinniger Beobachter der Gegenwart

Thoreau, den ein Journalist einmal den „Vater aller Aufmüpfigen“ nannte, war kein Schwärmer. Er war ein scharfsinniger Beobachter und Kritiker seiner Gegenwart. So weist er auf die Verquickung der Nordstaaten-Ökonomie mit dem Sklavenhaltertum der Südstaaten hin, rügt, dass auch der Norden an den Plantagen des Südens mitverdient. Sicher, der „erhabene Poet von Flucht und Mysterium“ (SZ), feierte die Schönheit der natürlichen Landschaft, erfreute sich am Spiegeln der Sonne in den ruhigen Gewässern seines Walden-Ponds, dem Wiegen der Blüten im Wind. Doch ging es Thoreau zuerst um sein Menschsein und das, was man das „gute Leben“ nennt. 

Benesch zitiert aus Walden. „Ich zog in den Wald“, schreibt Thoreau, „weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Der mitschwingende Vorwurf an seine Zeitgenossen, „falsch” zu leben, machte Thoreau zu Lebzeiten suspekt. Freie Amerikaner, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten war ja noch nicht hundert Jahre alt, hielten sich doch für Pioniere des richtigen Lebens in ihrer „Neuen Welt“, waren sie doch darum – wie ein Amerikanist einmal formulierte – in „die Morgenfrische des neuen Kontinents“ aufgebrochen. Thoreaus Zivilisationskritik und -verweigerung erschienen wie Anmaßung. 

„Thoreau und sein kompromissloser ‚Way of Life‘“, sagt der Literaturwissenschaftler Klaus Bensch, „sind bis heute Inspiration und Vorbild für all jene, die an die Kraft individueller Rebellion, spiritueller Eigenständigkeit und an die Bedeutung eines wachen Bewusstseins für die Umwelt glauben.“ Foto: Oliver Jung

Leben auf Kosten seines Gönners Waldo Emerson 

Er war auch nicht zimperlich. Im ersten Walden-Kapitel ist Thoreaus spöttische Charakterisierung einer „conditio americana“ zu finden, die man als Verhöhnung verstehen muss. „Die Menschen kranken an einem Irrtum. Ein scheinbares Verhängnis – gewöhnlich Notwendigkeit genannt – lässt sie glauben, sie müssten Schätze anhäufen, die jedoch die Motten und der Rost fressen oder die Diebe stehlen werden. Sie führen ein Narrenleben, das wird ihnen am Abend ihres Daseins, wenn nicht schon früher klar werden.“

„Mann des Müßiggangs” ist dagegen der oben erwähnte NY-Times-Artikel über Thoreau überschrieben. Der habe eine Zeit im Gefängnis verbringen müssen, weil er sich geweigert hatte, Steuern zu zahlen. Waldo Emerson, sein Freund und Gönner, habe ihn ausgelöst und dabei gefragt: „Henry! Warum bist du hier?“ Thoreau habe trocken erwidert: „Waldo! Warum bist Du nicht hier?“ Diese „Yankee“-Antwort, so die Times, sei „wirklich undankbar“ gewesen, sei doch Thoreaus ganzer Lebenswandel dem Schriftsteller Emerson geschuldet. Der habe ihn unentgeltlich auf seinem Land wohnen lassen und seine Gesellschaftsflucht so erst ermöglicht. „Thoreau lebte nur für seine Vergnügen und arbeitete, wenn es ihm passte.“ Ein „Gammler“ (loafer) sei er gewesen und – ja! – ein „Aristokrat“.

„Die meisten von uns“, so der Times-Autor dann aber, „die nach anderer Leute Standards leben, die sich jeden Tag den Kragen eines Berufs umbinden und in die Tretmühlen der Arbeit hinuntersteigen müssen“, könnten die Frivolität von Thoreaus ökonomischer und sozialer Ungebundenheit, „nur mit Neid“ ertragen. Eigentlich müsse aber „einem Hund schlecht von uns werden.“ Denn Thoreau sei der Mann gewesen, der wirklich „unabhängig dachte und sich auch so artikulierte.“

Diesen bis heute reichenden Ruhm erlangte Thoreau durch seine Schriften. Auf der ewigen Bestenliste von ‚Goodreads‘ mit den am häufigsten zitierten englischsprachigen Autoren belegt Thoreau zwischen Malcolm X und Terry Pratchett einen stabilen 45. Platz, „The Quotations Page“ führt ihn an 10. Stelle (nach Gandhi und Nietzsche, vor Emerson). Sein Sujet, das Leben in nicht angekränkelter Natur, passt auch gut zum Zeitgeist der Gegenwart. Seine Ideen sortieren sich ein zwischen Jean-Jacques Rousseaus Ende des 18. Jahrhunderts artikulierten Zivilisations-Kritik an der unwahrhaftigen Gesellschaft und dem modernen Maker-Movement mit dem „Whole Earth Catalog“ aus der Mitte des letzten Jahrhunderts: Henry Thoreau ist heute so etwas wie ein postheroischer Robinson Crusoe im Maker-Space. „Ich hätte der erste oder der letzte Mensch sein können“, heißt es in Walden.

„Nature Writing“: Eine aktuell schicke Rubrik – und ein Boom

Subsumiert werden Thoreaus Schriften unter der aktuell schicken Rubrik „Nature Writing“. Dies, so Klaus Benesch, sei allerdings ein literarischer Schirm, der weit gespannt ist und sowohl Ökologietexte und Naturlyrik, Naturgeschichte und -philosophie, Schriften der Umweltbewegung, Aussteiger- wie Nachhaltigkeitsratgeber, Naturalismus wie Naturmystik umfasst. Die wissenschaftliche Analyse von Ökosystemen, eine pure Zivilisationsverachtung, esoterisches Baumverstehen, die neokonservative Sehnsucht nach dem Eigentlichen, kurz: die vermeintliche Rückkehr zur Authentizität einer unberührten Natur liegen hier beieinander. 

Eine Sehnsuchtswelt: Wie auch der 2020 an die Lyrikerin Louise Glück verliehene Nobelpreis für Literatur belegt, gelten hier die intensive Naturerfahrung, das tiefe Erlebnis von Tages- und Jahreszeiten, Pflanzen, Wetter, Licht und Nacht als Schlüssel zu wahrhaftigen existenziellen Erfahrungen. Achtsame Naturbetrachtung und entschleunigte Innenschau werden zu Synonymen, mitgemeint ist immer die Abkehr von den zerstörerischen Wirkmächten der Kultur und einem auf Hochtouren ins Leere laufenden Kapitalismus. Dagegen stehen der Mythos einer seinsgerechten Natur und die Behauptung von Resilienz. Diese vorgebliche Ganzheitlichkeit erinnert stark an das, was die Romantik „Universalpoesie“ genannt hat, das „schlafende Lied in allen Dingen“ (Eichendorff). Trotz seiner Anschlussfähigkeit an viele dieser Vorstellungen wird man dem Denken Thoreaus damit nicht gerecht. 

Eine Zuflucht für 28,12 Dollar, inklusive Transportkosten: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegungen zu leben“, schreibt Henry Thoreau über seine Auszeit. Nachbau der Walden Hut, in den 1970er-Jahren. Foto: Frank C. Curtin/AP/Picture Alliance

„Thoreau fragte sich, was ist das Original an menschlicher Natur und was das Faksimile, die Überwältigung der menschlichen Natur durch Kommerz und Kapitalismus.“

„Die Künstlichkeit des modernen Lebens – für Thoreau ein zu hoher Preis“

Benesch nennt Thoreau einen „nicht-erobernden Puritaner“, der sich die Natur auch nicht dadurch untertan machen wollte, dass er sie als Spiegel für die eigenen Sehnsüchte nahm und in sie hineinlas, was er zu empfinden glaubte. Thoreau war kein Romantiker. Sein Rückzug in die Wälder war zuerst der Versuch einer Entschlackung von einer als Beschwernis empfundenen Moderne, deren Siegeszug Thoreau bereits im Pfeifen der vorbeifahrenden Lokomotiven am Walden Pond vernehmen konnte. Sein Handeln bestimmte dann die Frage, wie man als Philosoph im Einklang mit seiner Philosophie leben kann. „Geistreiche Gedanken machen noch keinen Philosophen.“, schreibt Thoreau in Walden. „Vielmehr muß man die Weisheit solchermaßen lieben, dass man nach ihren Vorschriften lebt, ein Leben der Einfachheit, Unabhängigkeit und des Vertrauens. Probleme des Lebens sollen wir nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch lösen.“

So wollte Thoreau den Beweis erbringen, dass der Mensch die existentielle Kluft zwischen intellektueller Not und materiellen Notwendigkeiten überbrücken kann und es ihm in (und trotz) der Moderne gelingt, die Antithese von Kultur und Natur, Mensch und Sein miteinander zu versöhnen. Es war zuerst der Versuch einer Rückbesinnung – zurück zu den Grundlagen des Menschen, die ihn in der Welt und nicht gegen sie leben lassen. „Die Künstlichkeit des modernen Lebens“, so Benesch, „ist für Thoreau darum ein zu hoher Preis für die Ausbeutung aller natürlichen Ressourcen.“ Er zitiert aus Walden: „Ich ließ meinen Garten völlig ruhen, brachliegen. Ein Mann ist reich im Verhältnis zu all den Dingen, die er nicht besitzen muss.“

„Thoreau“, so Benesch, „fragte sich, wie kann man in der Moderne noch zwischen Oberfläche und Kern unterscheiden, was ist das Original an menschlicher Natur und was das Faksimile, die Überwältigung der menschlichen Natur durch Kommerz und Kapitalismus“. Seine Antwort auf diese Herausforderungen lautet: „Die kompromisslose, geradezu mönchische Haltung gegenüber jeder Art von materiellem Verlangen. Alles, was die natürlichen Kreisläufe von Nehmen und Geben überschreitet und Mensch und Natur nicht gleichberechtigt, wird von ihm strikt abgelehnt.“ Thoreau wollte die Natur nicht empfinden, er wollte sich mit seiner eigenen versöhnen.

Wenn man also Henry Thoreau mit einer Chiffre belegen wollte, dann vielleicht mit der eines metaphysischen Naturalisten, der den Menschen vor dem Angriff der Moderne verteidigen will. Dies allerdings im Namen einer Natur, von der auch Thoreau nur ahnt, dass es sie geben könnte.

Bernd Graff

Prof. Dr. Klaus Benesch

ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Nordamerikanische Literatur an der LMU. Benesch, Jahrgang 19XX, studierte an der LMU und wurde auch dort promoviert; Habilitation an der Universität Freiburg. Er war von 2006 bis 2013 Direktor der Bayerischen Amerika-Akademie (München) und hatte Gastprofessuren an der University of Massachusetts (Amherst), Weber State University (Utah), Stanford University, École normale supérieure (Lyon), Université de Bordeaux (Montaigne), Venice International University (San Servolo) und an der Universität St. Gallen (Schweiz). Mitglied in verschiedenen DFG finanzierten Forschungsverbünden und Forschergruppen, etwa im Sonderforschungsbereich (SFB) „Vigilanzkulturen“.  Zuletzt veröffentlichte er Mythos Lesen. Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter (2021). Derzeit ist Benesch „LMU International Research Professor“ an der Harvard University, Cambridge, USA.

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