Die Produktion von Literatur war immer schon ein kollaborativer Prozess mit mehr oder weniger Beteiligten, die aber meist nicht auf Buchdeckeln oder im Rampenlicht stehen. In einem Summer Seminar der Germanistik waren sie Hauptfiguren angeregter literaturwissenschaftlicher Diskussionen.
Der Seminarraum im Philologicum der LMU ist bis auf den letzten Platz gefüllt: Promovierende, Studierende sowie Professorinnen und Professoren aus Deutschland, den USA, dem Vereinigten Königreich oder der Schweiz haben sich an drei Tagen im Juni in München zusammengefunden. Sie wollen gemeinsam literarische Fragestellungen zum Thema „Challenging authorship. Hidden networks of the creative process“ diskutieren.
Gerade geht es in einer der zahlreichen Sessions um „Making an author“ – am Beispiel des ersten Romans einer Frau, der 1771 in Deutschland veröffentlicht wurde. Hier untersuchen die Forschenden, wie der Herausgeber Christoph Martin Wieland die erwartbar heftigen Reaktionen von Lesepublikum und Literaturkritik zu antizipieren versuchte, die bei der Veröffentlichung von Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie von La Roche aufflammen würden – um diesen schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln zu nehmen: Die Autorin sei eine ganz honorige Frau, weil bescheiden und tugendhaft, und sie habe eben einen „Frauenroman“ verfasst. Wielands heute respektlos wirkenden Einlassungen waren damals wichtig, um das Buch in einer von Männern dominierten Literaturlandschaft überhaupt erfolgreich herausbringen zu können.
Perspektivenwechsel
Die Diskussion unter den Teilnehmenden ist lebhaft, wechselt angeregt zwischen Deutsch und Englisch und selbst die Pause muss hinausgeschoben werden, weil es immer wieder neue
Aspekte zu besprechen gilt.
Das Seminar kommt entsprechend gut an: „Es ist eine tolle Möglichkeit, nicht nur Deutsch zu sprechen, sondern auch Ideen auszutauschen, denn wir haben alle unterschiedliche Erfahrungen“, sagt Katie Unwin, die sich an der Cambridge University mit Tierperspektiven in Werken wie Die Rättin von Günter Grass oder Tage in Vitopia von Ulla Hahn befasst.
Ein Perspektivenwechsel ist das Kernziel des Summer Seminars – weg von den Literaturschaffenden hin zu jenen, die den Entstehungsprozess auf die eine oder andere Weise begleiten oder unterstützen: Herausgebende, Freunde und Familie, Ghostwriter und natürlich die Leserinnen und Leser, ohne die Literaturproduktion bloßer Selbstzweck wäre. „Kreative Prozesse sind immer kollaborativ, es partizipieren viele Leute daran, die allerdings häufig in den Hintergrund treten“, sagt Professor Carlos Spoerhase von der LMU (s. auch Porträt S.32), der das Seminar zusammen mit seinem Kollegen Joel B. Lande von der Princeton University initiiert hat.
Wider den Legitimationsdruck
Das literaturwissenschaftliche Thema ist nur eine Seite der Medaille dieses Seminars. „Es geht uns auch darum, den Austausch und langfristige transatlantische Beziehungen aufzubauen und die Germanistik hier wie dort zu stärken“, sagt Spoerhase. Denn in einer Zeit, in der die Geisteswissenschaften in unterschiedlichen nationalen Kontexten unter einem zunehmenden Legitimationsdruck stehen, ist die internationale Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung. Es ist wichtig, dass traditionsreiche Universitäten wie die LMU und die Princeton University, die auf eine stolze Geschichte geisteswissenschaftlicher Forschung zurückblicken können, in unserem globalen Zeitalter durch transnationale Formate neue Möglichkeiten für intellektuelle Kollaboration und Innovation schaffen – und sich so an der Spitze der internationalen Forschungslandschaft behaupten. Carlos Spoerhase und sein US-amerikanischer Kollege Joel B. Lande sind sich sicher: Eine intensive und auch auf lange Sicht angelegte Kooperation stärkt die Geisteswissenschaften auf beiden Seiten des Atlantiks.
Die Öffentlichkeit im Blick
Wichtig für die Organisatoren des Seminars ist auch die größere Öffentlichkeit als wichtiger Rezipientenkreis geisteswissenschaftlicher Forschung. Deswegen haben sie an allen drei Tagen Forschende und Literaturschaffende eingeladen, um das Seminar mit öffentlichen Vorträgen und Diskussionen zu flankieren. Auf der Agenda standen gleichsam Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Literaturproduktion: So gab es Lectures zu Kollektivität in der Literaturgeschichte oder zur Nutzung von KI-Lösungen wie ChatGPT bei kreativen Prozessen. Auch ein fünfköpfiges Schreibkollektiv las aus dem gemeinsam verfassten Werk und gab einen Einblick in die zahlreichen Herausforderungen beim kollaborativen Schreibprozess und bei der Veröffentlichung.
„Im Prinzip hat alles, was im Seminar thematisiert und besprochen wurde, große Relevanz für mein eigenes Dissertationsprojekt“, freut sich Sandra Wetzel, die an der Uni Tübingen promoviert und sich mit der Reflexion von Co-Kreativität in englischen Vorworten und Widmungen der Frühen Neuzeit befasst. Sie hofft, dass sich auch eine Basis für künftige Zusammenarbeit aus den neuen Kontakten ergibt.
Auch Mit-Organisator Carlos Spoerhase, der die Idee für das Summer-Seminar von einem Forschungsaufenthalt an der Partneruni Princeton mitgebracht hat, zieht ein positives Resümee: „Es war ein außerordentlich inspirierendes Sommerseminar, das die verborgenen Netzwerke des kreativen Prozesses auf hoch konzentrierte Weise erforscht hat: Wir freuen uns schon sehr darauf, dieses kollaborative Lehrformat im kommenden Sommer in Princeton fortzusetzen.“
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