Die fremde Welt der Tiefe
Auch noch Meilen unter dem Meer existiert Leben. Mikroorganismen schaffen dort eigentümliche Ökosysteme.

Weitere Artikel aus diesem Magazin

Schlamm in der Tiefe: „Wenn wir Proben an die Oberfläche holen, können wir Rückschlüsse auf den Stoffwechsel der darin gefundenen Organismen ziehen“, sagt William Orsi. In seinem Labor untersucht er die Überlebenskünstler in den Sedimenten. Fotos: Oliver Jung

Weite, schlickige Ebenen bedecken Millionen Quadratkilometer Meeresboden der Tiefsee. Weit weg von der Oberfläche der Ozeane, in Tiefen von bis zu 6.000 Metern, herrschen extreme Bedingungen. Kälte, absolute Dunkelheit und immenser Druck stellen jegliches Leben dort vor riesige Herausforderungen. Die oberste Schicht dieses weichen Schlamms kommt dabei noch mit frischem Wasser in Kontakt, darunter beginnt eine große, noch weitgehend unbekannte Wildnis. Forschende wie William Orsi nennen sie die tiefe Biosphäre. Und die ist alles andere als leblos: Mit Bohrkernen aus Tiefseesedimenten haben Forschende Einzeller zutage gefördert, ebenso Bakterien, Archaeen, Pilze und Viren. Wenn jemand unten in den dicken Schlammschichten und sogar bis in das Gestein darunter vegetieren kann, dann sie: Mikroorganismen gehören zu den flexibelsten und facettenreichsten Lebewesen der Erde.

In der Unterwelt der Ozeane gilt es vor allem, genügsam zu sein. „Die Zellen der Bakterienarten in den Tiefseesedimenten sind vergleichsweise klein“, erzählt William Orsi, LMU-Professor für Geowissenschaften, Paläontologie und Geobiologie. „Außerdem läuft ihr Stoffwechsel zehntausendmal langsamer als bei Bakterien, die an der Oberfläche leben.“ Beides spart Energie, denn die Wassermassen des offenen Meeres über diesen Sedimenten sind sehr unproduktiv und energiereiche organische Verbindungen, die als Nahrung dienen könnten, sind unter dieser blauen Wüste absolute Mangelware. So führen die Organismen im Meeresboden ein sehr langsames Leben am untersten Energie-Limit.

Es ist ein Dasein in extremer Zeitlupe. Während sich beispielsweise Bakterien normalerweise im Tages- oder Stundentakt teilen, schaffen es die schnellsten Arten der Tiefsee alle paar Monate. Manche brauchen Jahre oder womöglich sogar Jahrhunderte und erreichen dabei ein extrem hohes Alter – zumindest in gewisser Weise. „Die Zellen erneuern sich in ihren Bestandteilen mit der Zeit Stück für Stück komplett – sie sind also praktisch nicht mehr die Alten.“ Kann man das Altern nennen? Dieser Lebensraum, so Orsi, dehnt den Begriff von den Grenzen des Lebens weit aus.

Das kostbare Gut aus den Bohrkernen geht an Forschende in aller Welt

Der Geobiologe will solchen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kommen. „Wenn wir Schlammproben an die Oberfläche holen, können wir Rückschlüsse auf die Stoffwechselraten der darin gefundenen Organismen ziehen“, sagt Orsi. „Man muss allerdings aufpassen, denn Bakterien wachsen häufig schlagartig sehr schnell, wenn man sie aus dem Tiefseeschlamm in eine neue Umgebung bringt.“ Unter den extremen Bedingungen am Grund des Meeres sieht das anders aus. Forschende nehmen daher auch biochemische Marker in den Sedimentschichten als Indizien zur Hilfe – Spuren des Lebens und Sterbens ihrer Bewohner. „Generell ist bei der Analyse der Bohrkerne stets eine Kurve zu sehen, die Anzahl lebender Zellen nimmt mit zunehmender Sedimenttiefe deutlich ab“, so Orsi. Je tiefer man in die Schichten vordringt und je älter die Sedimente damit sind, desto rarer wird das Leben. „Irgendwann ist dann die Sterberate in einer Population höher als die Wachstumsrate – und für einige Mikroorganismen bedeutet dies für lange Zeit sozusagen ein Leben an der Grenze zum Tod.“ 

Der abgelegene Lebensraum bringt auch Forschende an Grenzen: Nur durch gute Zusammenarbeit gelingt es internationalen Teams, die technisch anspruchsvollen und teuren Bohrungen in der Tiefsee zu stemmen. „Was den Aufwand angeht, sind die einzelnen Bohrungen vergleichbar mit jenen, mit denen auch die Erdölindustrie – natürlich in größerem Stil – nach neuen Lagerstätten sucht“, so Orsi. Deswegen gehen Proben aus den kostbaren Bohrkernen an Forschende auf der ganzen Welt. Sie stehen noch vor vielen Fragen rund um die Lebensgemeinschaften der Finsternis. Beispielsweise ist noch weitgehend unbekannt, wie die Kooperation zwischen den Arten funktioniert, denn Tiefseeschlamm ist sehr feinporig. Das isoliert die Organismen unter der Oberfläche nicht nur von der Welt darüber, sondern auch voneinander. „Tatsächlich geht man derzeit davon aus, dass sich die einzelnen Organismen in dem Schlamm unter der Tiefsee wohl eher wenig bewegen“, sagt Orsi. 

Dennoch bilden Bakterien, Archaeen, Pilze und Viren wahrscheinlich ein komplexes und vernetztes Ökosystem. „Es gibt Hinweise auf Syntrophie zwischen verschiedenen Bakterien und Archaeen“, sagt Orsi. Was also der eine produziert, kann der andere verwerten. Viren lauern indes als sogenannte Prophagen im Genom der Einzeller und schlagen vor allem dann zu, wenn ihre Wirte in Stress geraten. „Von dem Tod der Wirtszellen profitieren andere Individuen, die durch virusinduzierte Auflösung freigewordenen Zellbestandteile nutzen.“ Angesichts des extremen Nahrungsmangels spielen Viren so vermutlich eine wichtige ökologische Rolle. Auch Pilze verwerten solche frei gewordene organische Masse und bauen sie zu anorganischen Materialien ab.

Auf der Suche nach dem Limit des Lebens: Bohrungen in die Sedimente des Tiefseegrabens vor Puerto Rico, mit rund 8.000 Metern die tiefsten Meeresregion des Atlantischen Ozeans. Foto: William Orsi

Kein Ort der Artenvielfalt

Überbordende Biodiversität sucht man hier unten allerdings vergeblich. Die kargen und teilweise bis auf die darunterliegende Erdkruste sauerstoffdurchdrungenen Sedimente unter der offenen See wie etwa den weiten Ebenen unter dem Nordatlantik geben nicht viel her. „Die Artenvielfalt in den Sedimenten der Tiefsee ist viel niedriger als die in den Meeresböden in flacherem Wasser wie der Nordsee oder auch im Erdboden auf dem Festland.“ Auch sind die Lebensgemeinschaften unter der Tiefsee alles andere als reich an Individuen. Anders als in küstennahen Gebieten jedenfalls, in denen das Meer durch den Einfluss des Landes nährstoffreicher und damit produktiver ist; es setzen sich mehr organische Sedimente ab. Das wiederum führt zu weniger Sauerstoff im Meeresboden. Unter diesen nahrungsreichen Bedingungen gedeiht eine vergleichsweise üppige Lebensgemeinschaft am Meeresboden mit einer Ansammlung anaerober Mikroorganismen ein paar Zentimeter tiefer. 

„Wir haben definitiv die Nachweisgrenze unserer bisherigen Methodiken erreicht. Aber ich glaube nicht, dass wir damit bereits die Grenze des Lebens ausgelotet haben.“

Bis zu welcher Tiefe im Boden unter dem Meer ist Leben überhaupt möglich?

Doch nicht nur die Nähe zum Land prägt die Gemeinschaften. „Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass sich ihre Zusammensetzung und ihre Diversität sich in verschiedenen Regionen und Breitengraden voneinander unterscheidet. Das zeigt sich, wenn man Bohrkerne etwa aus dem Meer vor Alaska und solche aus der Karibik vergleicht.“ Es spricht zudem vieles dafür, dass auch die Wassertiefe die Mikrobengemeinschaft des Meeresbodens beeinflusst. „Wir wissen leider bisher nicht viel darüber und planen daher an einem Tiefseeabhang mehrere Bohrungen in Wassertiefen zwischen 3000 und 8000 Metern“, erzählt Orsi.

Bis zu welcher Tiefe im Boden unter dem Meer ist Leben überhaupt möglich? Die Suche nach diesem Limit, berichtet Orsi, ist noch nicht abgeschlossen. Bisher wurden noch mehr als zwei Kilometer unter dem Meeresboden lebende Zellen gefunden. „Allerdings nur in sehr geringen Konzentrationen – wir haben dabei definitiv die Nachweisgrenze unserer bisherigen Methodiken erreicht. Aber ich glaube nicht, dass wir damit bereits die Grenze des Lebens ausgelotet haben.“ Irgendwann jedenfalls nimmt die Hitze aus dem Erdinneren so sehr zu, dass die Mikroorganismen zu kochen beginnen. Dann ist endgültig Schluss, auch für die hartnäckigsten Überlebenskünstler.

Doch was hat sie überhaupt in diese tiefsten Tiefen verschlagen? Die meisten dieser Arten tief im Sediment sind auch auf dem Meeresboden und selbst im Wasser darüber zu finden. Vermutlich hielten einige Organismen stand, während sie durch den Druck des herabrieselnden Sediments über Jahrmillionen Meter um Meter hinuntergedrückt wurden. „Es war wohl so, dass besser angepasste Individuen bis in große Tiefen überlebt haben, während die meisten anderen, die darin gefangen waren, schon starben.“ Dabei entstanden sehr stabile Ökosysteme, die offenbar schon Millionen von Jahren überlebt haben. William Orsi hat zum Beispiel herausgefunden, dass die Lebensgemeinschaften in den sauerstoffdurchdrungenen roten schlammigen Meeresböden mitten im Nordatlantik seit bis zu 15 Millionen Jahren von Archaeen dominiert werden. Diese einzelligen Mikroorganismen haben eine einzigartige Strategie, mit der sie in diesen extremen Bedingungen überleben können: Sie gewinnen die dafür nötige Energie aus der Oxidation von Ammoniak.

So abgeschottet vom Rest der Welt, wie diese Mikroorganismen vegetieren: Werden sie auf Dauer von all den Umwelteinflüssen unberührt bleiben, die Land und Meere, den ganzen Planeten, derzeit so dramatisch verändern? „Ich glaube, größtenteils schon“, sagt Orsi. „In flacheren Meeresregionen sehen wir in den Sedimenten durchaus die Einflüsse von Klimaveränderungen – wie etwa den Eiszeiten – auf die Mikroorganismengemeinschaften.“ Nicht so in den Tiefseesedimenten: „Dieses Ökosystem und seine Bewohner scheinen sich seit Jahrmillionen nicht verändert zu haben, nicht auf kürzerfristige Klimaschwankungen zu reagieren.“ Bleibt dieser Lebensraum, diese Welt der Extreme, also tatsächlich auch in Zukunft die letzte unberührte Wildnis? Das womöglich wiederum nicht, mutmaßt Orsi. „Die Tiefsee ist reich an Rohstoffen wie etwa Metallerzen und es gibt ja bereits Ambitionen, Manganknollen in großem Stil vom Meeresboden zu fördern.“ Wer könne wissen, was dann aus den Ökosystemen dort und seinen Bewohnern wird.

Nicole Lamers

„Die Ökosysteme in den Tiefsee-Sedimenten scheinen sich seit Jahrmillionen nicht verändert zu haben, nicht auf kurzfristige Klimaschwankungen zu reagieren.“

Prof. Dr. William Orsi
ist Professor am Department für Geo- und Umweltwissenschaften, Paläontologie und Geobiologie, der LMU. Orsi, Jahrgang 1984, studierte Biologie an der Temple University in Philadelphia, USA. Promoviert wurde er am Biologie-Department der Northeastern University, Boston, USA. Er forschte am Department für Geologie und Geophysik sowie am Department für Marine Chemie und Geochemie der Woods Hole Oceanographic Institution in Woods Hole, Massachusetts, USA, und am University of Maryland Center for Environmental Science in Cambridge, Maryland, USA, bevor er im Jahr 2016 an die LMU kam.

diesen Artikel teilen:

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Aktuelles aus der Forschung

Von Glück und Pech in der Genlotterie


Vom genetischen Einfluss auf das Immunsystem

Der Dolmetscher

Laurent Frantz erklärt „alte DNA“

„Ähnlichkeiten zwischen den Imperien waren groß“


Unterhaltung mit Historiker Tom Menger über koloniale Kriegsführung und massive Gewalt

Ruf der Wildnis

Editorial zum Schwerpunkt

Auf dem Sprung

Infektionskrankheiten, die von Tieren auf den Menschen übergehen, nehmen zu. Warum?

Kindheit im Dschungel

Entwickeln Kinder, die im Regenwald aufwachsen, ein anderes Konzept von der Natur als westliche Stadtkinder?

Das Grundrecht des Fuchses

Warum die Natur selbst zum Rechtssubjekt werden sollte

Lange Zeit der Zähmung

Über die Geschichte der Domestikation – von den wilden Vorfahren bis zu den uns vertrauten Nutztieren


Der erste Aussteiger

Leben in und mit der Wildnis: Über den schillernden Autor und Philosophen Henry David Thoreau

Strategien gegen das Domino-Prinzip

Wenn der Nachschub stockt, drohen die komplexen globalen Lieferketten zu reißen. Was macht sie robuster?

Eine neue Weltordnung


Was der Einmarsch Russlands in die Ukraine für das Zusammenleben der Völker und internationale Normen bedeutet


Die Zukunftsfrage

Wie können wir die digitale Infrastruktur gegen künftige Angriffe absichern?

Impressum

Das LMU-Magazin

Licht an – Was die Welt erstrahlen lässt

Nummer 1 / 2024

Echt jetzt – Natürlich, künstlich: Die Grenzen verschwimmen

Nummer 2 / 2023

Zusammenhalten – Vom Wert der Kooperation

Nummer 1 / 2023

Ruf der Wildnis – Was die Natur von uns verlangt

Nummer 2 / 2022

Muster des Fortschritts – Was uns voranbringt

Nummer 1 / 2022

Raus ins Leben – Eine Generation nach dem Lockdown

Nummer 2 / 2021