„Big Data liegt mir“, sagt Humangenetikerin Sarah Kim-Hellmuth, die in aufwendigen Analysen den genetischen Einfluss auf das Immunsystem und auf den Verlauf unterschiedlicher Erkrankungen untersucht. Foto Stephan Höck
Es gibt diese Menschen, die niemals ernsthaft krank werden. Und es gibt die, die sich von einer Erkältung zur nächsten hangeln. Manche wenige hatten in den fast drei Pandemiejahren noch kein Corona. Andere sind bereits zum dritten Mal infiziert. Einen entscheidenden Anteil an solchen Unterschieden hat auch unser Genom. Doch nicht ein einzelnes Gen ist die Ursache, auch nicht zwei oder drei. Ob wir gesundheitlich eher robust sind oder wirklich jeden Infekt mitnehmen, wird stattdessen von Millionen Stellen in unserem Genom beeinflusst. Polygenetisches Risiko lautet der Fachbegriff dafür.
Die Humangenetikerin Sarah Kim-Hellmuth widmet sich in ihrer Forschung genau diesem Thema. Sie will verstehen, warum beispielsweise eine Person eine Autoimmunerkrankung entwickelt, eine andere aber nicht. Warum bei derselben Erkrankung ganz unterschiedliche Symptome auftreten können. Und wie man den Patientinnen und Patienten am besten hilft. Mit dem Computer analysiert und ordnet sie riesige Datensätze, um Zusammenhänge zwischen dem Genom eines Menschen und seinem Krankheitsrisiko zu erkennen und eines Tages personalisierte Therapieansätze zu entwickeln. Im Fokus stehen dabei Autoimmunerkrankungen wie Systemischer Lupus erythematodes (SLE) oder Typ 1 Diabetes, aber auch Herzkreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen.
„Die Genaktivität spielt bei der Krankheitsentwicklung eine große Rolle“, erklärt Kim-Hellmuth. Um das zu verstehen, muss man sich kurz mit der Arbeitsweise des Genoms befassen. Obwohl jede Zelle unseres Körpers das gleiche Erbgut trägt, unterscheiden sich die Zellen in verschiedenen Geweben wie Herz, Blut oder Gehirn sehr stark voneinander: Sie haben eine andere Form, andere Fähigkeiten und Funktionen. Grund dafür ist, dass die Gene äußerst spezifisch abgelesen werden. Sie sind nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort aktiv. Ansonsten ruhen sie. Wir Menschen unterscheiden uns also nicht nur darin, welche Gene wir tragen, sondern auch, wann diese Gene aktiv oder inaktiv sind.
Hunderttausend Basenpaare weit vom Gen entfernt
Das menschliche Genom besteht aus etwa drei Milliarden Bausteinen, den DNA-Basen. Nur ein bis zwei Prozent davon sind tatsächlich Gene, die von DNA in RNA und schließlich in Proteine umgeschrieben werden. Doch die restlichen 98 Prozent sind eben nicht nur Müll, wie man lange Zeit dachte. Hier befinden sich auch die Promoter und Transkriptionsverstärker, sogenannte Enhancer, welche die Aktivität der Gene regulieren.
Ist in diesen Promotern oder Enhancern auch nur eine Base verändert, kann das beeinflussen, wie gut oder schlecht das von ihnen regulierte Gen abgelesen wird. Etwa fünf Millionen solcher variablen Positionen gibt es in der Bevölkerung. Manche Veränderungen verstärken die Genexpression, andere schwächen sie ab. Oft wird ein und dasselbe Gen von unterschiedlichen Stellen im Genom aus reguliert, die manchmal direkt daneben und manchmal hundertausend Basenpaare entfernt liegen. Die Sache ist also äußerst komplex. Um überhaupt eine Verbindung erkennen zu können zwischen einer Veränderung im Genom und dem Auftreten einer Krankheit, muss man daher das Erbgut von vielen Menschen untersuchen. Eine Wissenschaftlerin allein schafft das nicht. Teamwork ist gefragt.
In solch ein Team kam Sarah Kim-Hellmuth im Jahr 2015, als sie als Postdoktorandin vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn an das neugegründete New York Genome Center wechselte. „Die Atmosphäre war wie in einem Start-up“, erinnert sich Kim-Hellmuth. Junge Gruppenleiterinnen und -leiter, intensiver Austausch. Innovative Technologien, flache Hierarchien. „Zwei Türen weiter saßen Nobelpreisträger, die ich beim Vornamen ansprechen und um Rat fragen konnte“, schwärmt sie. Gemeinsam mit etwa 50 anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt arbeitete sie fortan am Genotype-Tissue Expression-Projekt (GTEx). Bisher hatte sie nur wenig mit Datenanalyse gearbeitet. Beim GTEx stieg sie zu einer der Hauptanalystinnen auf. „Big Data liegt mir“, lautet ihre einfache Erklärung.
Die GTEx-Gruppe hatte Gewebeproben von 838 Spenderinnen und Spendern gesammelt: Zellen aus Lunge und Bauchspeicheldrüse, Nebenniere und Leber, Speiseröhre und Gehirn. Insgesamt 15.201 Proben aus 49 Geweben. In allen Proben fanden zwei verschiedene Analysen statt. Die DNA-Sequenzierung zeigt, welches Erbgut die Zellen tragen. Das ist in allen Geweben eines Spenders gleich. Die RNA-Sequenzierung hingegen deckt auf, welche Bereiche des Erbguts in den einzelnen Geweben überhaupt aktiv sind. Hier finden sich bei ein und derselben Person riesige Unterschiede.
Wer trägt ein höheres individuelles Risiko als der Rest der Bevölkerung?
2020 veröffentlichte das Konsortium seine aufwendigste Datenanalyse. Das Ergebnis: „Die genetische Regulation der Genaktivität kommt sehr viel häufiger vor als man bisher angenommen hat“, erklärt Sarah Kim-Hellmuth. „Unsere Studie zeigt, dass fast jedes der mehr als 23.000 analysierten Gene in mindestens einem der Gewebe eine genetische Komponente aufweist.“ Früher dachte man, dass maximal die Hälfte aller Gene vom Genom reguliert wird. Mit diesem enormen Datensatz hat GTEx den Grundstein dafür gelegt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt fortan gezielter nach dem Einfluss von genetischen Variationen auf die Genregulation suchen können.
Tatsächlich lässt sich bereits heute bei einigen Krankheiten sagen, wer besonders gefährdet ist und wer etwas mehr Glück in der Genlotterie hatte. Zum Beispiel bei der koronaren Herzerkrankung. Etwa acht Prozent der Männer und Frauen in Deutschland haben allein aufgrund ihres genetischen Profils ein dreifach erhöhtes Risiko, eine koronare Herzerkrankung zu entwickeln als der Rest der Bevölkerung. Da nicht nur ein oder zwei Gene dafür verantwortlich sind, bezeichnen Fachleute dies als polygenetische Risikofaktoren. Zwar ist dieses Risiko im Erbgut festgeschrieben, aber diese Menschen können mit einem gesunden Lebensstil dagegenhalten. Sie können Sport treiben, täglich Gemüse essen, viel an die frische Luft gehen und damit das erhöhte Risiko deutlich dämpfen.
Oder Brustkrebs. Wer eine bestimmte Mutation in den Genen BRCA1 und 2 aufweist, hat ein stark erhöhtes Risiko, im Laufe des Lebens an Brust- oder Eierstockkrebs zu erkranken. Doch es gibt noch zahlreiche andere Gene, die ebenfalls in diese Gleichung mit hineinspielen. „Die polygenetischen Risikofaktoren für diese Krankheit können auch bei Menschen mit mutiertem BRCA1 und 2 niedrig sein“, erklärt Kim-Hellmuth. Ist dies der Fall, könne man vielleicht eine etwas konservativere Therapie wählen.
GTEx konnte auch aufdecken, dass sich die Genregulation zwischen den Geschlechtern unterscheidet. 37 Prozent aller untersuchten Gene wurden in mindestens einem Gewebe anders abgelesen, je nachdem ob die Person eine Frau mit zwei X-Chromosomen oder ein Mann mit einem X- und einem Y-Chromosom war.
Voraussagen können, welche Symptome ein Patient entwickelt
Als die GTEx-Analysen im Jahr 2020 abgeschlossen waren, kehrte Sarah Kim-Hellmuth nach München zurück. Hier hatte sie einst an der LMU und der Technischen Universität München (TUM) ihr Medizinstudium absolviert. Jetzt nahm sie ihre klinische Tätigkeit an der Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital wieder auf und leitet seit 2021 ihre eigene Forschungsgruppe. 2022 wurde sie in das prestigeträchtige Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen, das seitdem ihre Arbeitsgruppe finanziert.
Während sie in New York noch gewebeübergreifend gearbeitet hat, gilt ihre Aufmerksamkeit jetzt ganz dem Immunsystem. Das allein ist schon extrem variabel und komplex, denn es besteht aus vielen verschiedenen Zelltypen. Den genetischen Einfluss auf die Immunzellen und somit den Krankheitsverlauf aufzuspüren, bedarf wieder großer Mengen an Daten.
„Selbst Patientinnen oder Patienten mit der gleichen Krankheit wie zum Beispiel Systemischem Lupus erythematodes können ganz unterschiedliche Symptome zeigen“, erklärt Kim-Hellmuth. „Es wäre ein großer Fortschritt, wenn wir nicht nur Lupus diagnostizieren, sondern auch den genetischen Einfluss berücksichtigen und vorhersagen könnten, welche Symptome ein Patient wohl entwickeln wird.“ Dann könnte man die Therapie ganz gezielt gegen diese zu erwartenden Symptome ausrichten.
Für die Zukunft hat die Humangenetikerin sich vorgenommen, die Unterschiede im Immunsystem der globalen Bevölkerung besser zu erforschen. „Die Prävalenz von Autoimmunerkrankungen und auch die Krankheitsverläufe sind weltweit ganz unterschiedlich“, erklärt Kim-Hellmuth. Sie möchte verstehen, woher diese Unterschiede kommen und wie groß der genetische Einfluss dabei ist.
Doch diese aufwendige Forschung will finanziert sein. Sarah Kim-Hellmuth bewirbt sich gerade um einen der hoch angesehenen Starting Grants des Europäischen Forschungsrates (ERC), eine Förderung von 1,5 Millionen Euro. Bei dem Projekt gilt es, zunächst Immunzellen von Menschen aus Afrika, Asien und Europa zu bekommen, ihre Immunantworten zu studieren und dann mit ihren Genomen zu vergleichen. „Und dadurch, dass ich in GTEx auch viel zu Geschlechtsunterschieden geforscht habe und das Immunsystem von Frauen und Männern sich stark unterscheidet, wird auch diese Frage weiterhin Teil meiner Forschung sein.“
Claudia Doyle
Dr. med. Sarah Kim-Hellmuth
Humangenetikerin, leitet seit Anfang 2022 eine Emmy Noether Nachwuchsgruppe am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU und dem Institut für Translationale Genomik des Helmholtz Munich, die sich mit dem genetischen Einfluss auf das Immunsystem beschäftigt. Seit 2022 ist sie auch Mitglied der Jungen Akademie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
„Die genetische Regulation der Genaktivität kommt sehr viel häufiger vor, als man bisher angenommen hat.“
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