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Die Ermordung Cäsars, das klassische Kollektivverbrechen. Gemälde von Vincenzo Camuccini, 1804. Foto: akg-images / De Agostini Picture Lib. / L. Romano

Ein Hang zur Milde

Im Laienurteil kommen Gruppentäter für dasselbe Vergehen mit einer geringen Strafe davon als Einzeltäter. Warum?

Es war eine kollektive Tat: Im Jahr 44 vor Christus erstachen römische Senatoren Julius Cäsar. Gemeinsam brachten sie ihm mehr als 20 Messerstiche bei. Ein klassischer Fall, doch kollektiv begangene Straftaten und andere Verstöße gegen Recht und Moral gibt es auch heute, und Opfer sind nicht nur die Mächtigen. Gruppenvergewaltigungen, Hassverbrechen oder Putschversuche sorgen immer wieder für Schlagzeilen.

Wie die Rechtsprechung urteilt, ist das eine. Wie aber sehen
wir ñ als juristische Laien ñ die Schwere der Verfehlungen und den Anteil des einzelnen Beteiligten? Neigen wir dazu, einem Gruppentäter eine geringere Schuld und damit eine mildere Bestrafung zuzugestehen als einem Einzeltäter? Teilen wir in unserem Alltagsverständnis die Schuld sozusagen auf und messen mit zweierlei Maß? Solche Fragen hat ein internationales Team um die LMU-Neurowissenschaftlerin Anita Keshmirian untersucht und dazu Hunderte zufällig ausgewählte Probandinnen und Probanden gebeten zu urteilen. Bekannt ist, dass sich Menschen weniger für die Schäden verantwortlich fühlen, die sie gemeinsam mit anderen verursachen. Doch wie sieht es aus, wenn Dritte, Unbeteiligte ohne Eigeninteressen, eine Tat und die Härte der Strafe beurteilen sollen? In der Studie neigten sie tatsächlich dazu, Gruppentäter nachsichtiger zu behandeln. Dieser Effekt wird als „Diffusion der Strafe“ bezeichnet. 

Dies zeige, so glauben die Forscherinnen und Forscher, einen grundlegenden Aspekt unseres Verständnisses von Ursache und Wirkung: Wenn es mehrere Ursachen für eine Wirkung gibt, neigten wir dazu, den Beitrag jeder einzelnen herunterzurechnen. Wenn etwa Eltern ihr Kind vernachlässigen, teilen wir gedanklich die Verantwortung dafür gleichsam zwischen Mutter und Vater. Wenn dieses Denkmuster die Unterschiede in dem vorgeschlagenen Strafmafl erklärt, würden wir dies nur erwarten, wenn die Opfer tatsächlich einen Schaden erlitten. Auch dies bestätigten die Experimente. Ging es in der skizzierten Fallgeschichte etwa um einen fehlgeschlagenen Mordversuch, machten die Probanden indes keinen Unterschied. Die bloße – wenn auch perfide – Absicht, so interpretierten die Forscher dieses Urteil, richte noch keinen Schaden an, für den die Verantwortung geteilt werden könnte. Scientific Reports, 2022

Die große Kälte

Ein Mikrowellenkühlschrank für Moleküle

Wird ein stark verdünntes Gas auf extrem tiefe Temperaturen abgekühlt, zeigen sich bizarre Eigenschaften. So formen manche Gase ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat – eine Art von Materie, in der sich alle Atome im Gleichtakt bewegen. Ein anderes Beispiel ist die Suprasolidität: dabei verhält sich Materie wie eine reibungslose Flüssigkeit mit periodischer Struktur. Besonders aufschlussreiche Formen von Quantenmaterie erwarten Physiker beim Kühlen von Gasen, die aus polaren Molekülen bestehen. Anders als freie Atome können sie rotieren, vibrieren und sich gegenseitig anziehen oder abstoßen. Allerdings ist es schwierig, molekulare Gase auf ultratiefe Temperaturen zu kühlen. Ein Team um Quantenphysiker Immanuel Bloch hat nun eine einfache Möglichkeit geschaffen, um dieses Hemmnis zu beseitigen. Sie basiert auf einem rotierenden Feld aus Mikrowellen.

Für ihre Experimente verwendeten die Forscher ein Gas aus Natrium-Kalium-Molekülen, die durch Laserlicht in einer optischen Falle eingesperrt waren. Um diese zu kühlen, setzte das Team die sogenannte Verdampfungskühlung ein. Mit Hilfe eines technischen Tricks, der mit Hilfe eines stark, rotierenden Mikrowellenfeldes polare Moleküle am Verklumpen hindert, gelang es, die Moleküle bis nahe dem absoluten Nullpunkt abzukühlen und erreichten so einen Tieftemperaturrekord. Die Methode ebnet den Weg, um Quanteneffekte exotischer Materieformen zu studieren. Nature, 2022

Eingangskontrolle

Afrikanische Schlafkrankheit: Wie der Erreger Tsetse-Fliegen besiedelt

In Afrika weit verbreitete Tsetsefliegen können den einzelligen Parasit Trypanosoma brucei übertragen, den Erreger der afrikanischen Schlafkrankheit. Der Parasit gelangt über den Speichel infizierter Fliegen in das Blut des Wirts und von dort weiter zum Gehirn. Die Fliegen selbst infizieren sich über die Aufnahme von Blut infizierter Wirte. Ein Team um die LMU-Biologen Sabine Bachmeier und Michael Boshart hat nun einen entscheidenden Signalmechanismus entschlüsselt, wie die Trypanosomen nach einer Blutmahlzeit aus dem Magen-Darm-Trakt der Fliegen zu deren Speicheldrüsen gelangen. Wie die Forschenden zeigen, kontrolliert ein Signalapparat an der Spitze der Geißel der Einzeller über den Botenstoff cAMP die Migration der Trypanosomen. Die Entfernung einer Komponente des Enzymkomplexes, der den Botenstoff produziert, reichte aus, um diesen Prozess zu unterbinden, sodass Trypanosomen die Tsetse-Fliegen nicht mehr effizient besiedeln konnten. Nature Communications 2022.

Rekordversuch im Quantenlabor: Einem Team mit Tim van Leent gelingt die Verschränkung zweier Quantenspeicher über Dutzende Kilometer. Foto: LMU

Die Zahl: 33 km

Rekordverschränkung

33 Kilometer misst die längste Glasfaserverbindung, über die zwei Quantenspeicher miteinander verschränkt wurden. Die Forscher der LMU konvertierten dazu die Wellenlänge von jedem der Lichtteilchen, die von den atomaren Speichern ausgesandt wurden. So konnten sie die Verluste auch über lange Glasfasern deutlich reduzieren und Verschränkung zwischen Atomen erzeugen. Trotz der räumlichen Trennung sind die Eigenschaften der Atome stark gekoppelt, was zum Beispiel sichere Kommunikation erlaubt und einen wichtigen Schritt darstellt hin zu einem zukünftigen Quanteninternet. Nature, 2022 

Der Modulierer machts

Angeborenes Immunsystem: Der letzte Schliff für die Bakterienabwehr 

Rezeptoren des Immunsystems, die Bestandteile bakterieller Zellwände als fremd erkennen, spielen eine zentrale Rolle bei der angeborenen Immunabwehr. Ein wichtiger immunstimulierender bakterieller Zellwandbestandteil ist das Molekül MDP, das von dem Immunrezeptor NOD2 erkannt wird. Ein Team um den LMU-Immunologen Veit Hornung hat nun die Mechanismen untersucht, wie der Rezeptor sein Zielmolekül identifiziert und einen wichtigen Zwischenschritt dieses Prozesses aufgedeckt. Die Forschenden konnten nachweisen, dass MDP erst von dem Enzym NAGK chemisch modifiziert werden muss, damit es von NOD2 erkannt werden kann. Diese Rolle von NAGK war bisher unbekannt und ist unabhängig von der in der Literatur bereits beschriebenen Funktion des Enzyms im Zuckerstoffwechsel. Nature, 2022

Die wahren Effekte der Landnutzung

Ein Modellierungsansatz, um Klimaschutzmaßnahmen differenzierter zu bewerten

Vegetation und Böden nehmen als wichtigste Kohlenstoffspeicher an Land momentan knapp ein Drittel der menschengemachten CO2 Emissionen auf. Somit tragen sie zur Verlangsamung der globalen Erderwärmung bei. Allerdings fungieren Wälder und Strauchlandschaften längst nicht so verlässlich als Kohlenstoffsenke, wie bisher angenommen. Dies zeigen Ergebnisse eines neuen Modellierungsansatzes, den ein Team um Julia Pongratz entwickelt hat. Die neue Methodik ermöglicht, aus Satelliten- und anderen Erdbeobachtungsdaten direkte Auswirkungen der menschlichen Landnutzung auf globale CO2-Flüsse von denen natürlicher Umweltfaktoren zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist wichtig, weil die Isolierung der direkten anthropogenen Effekte den wahren Fortschritt bei Klimaschutzmaßnahmen zeigt. Das Modell kann daher helfen, besser einzuschätzen, welchen Beitrag die Landnutzung zum Klimaschutz leisten kann. Nature Communications, 2022

Alpentransit

Erst die Römer brachten das Maultier nach Mitteleuropa

Bis zum Ende der Eisenzeit im 1. Jahrhundert vor Chr. züchteten die Menschen in den keltischen Siedlungen im nördlichen Alpenvorland ausschließlich Pferde. Die von den Kelten hochgeschätzten „Tiere für die Elite“ fanden vor allem bei Militäreinsätzen Verwendung. Als die Römer kurz vor Christi Geburt in die Gebiete nördlich der Alpen vordrangen und sich dort ansiedelten, brachten sie aus dem Mittelmeerraum auch Maultiere mit, dies zeigen Genanalysen von LMU-Forschern um Joris Peters. Maultiere waren beim Militär als Pack- und Arbeitstiere hoch angesehen. Die Römer schätzten die Esel-Pferd-Kreuzungen insbesondere in Bezug auf ihre Kraft, Ausdauer und Trittsicherheit im Gebirge. Außerdem kommen Maultiere mit wenig wertvollerem Futter aus und sind widerstandsfähiger Krankheiten gegenüber als Pferde und Esel. Journal of Archaelogical Science, 2022

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