„Wie könnt ihr hier leben?“
Über soziale Resilienz im Umgang mit dem Klimawandel

Weitere Artikel aus diesem Magazin

Nach der Katastrophe: Eine Sturzflut im Sommer 2012 hatte das Ackerland nahe der Stadt Dali in der chinesischen Provinz Yunnan überschwemmt. Nahe dem Flussufer blieben Geröll und sogar größere Gesteinsbrocken zurück. Foto: Liang Emlyn Yang

Enge Täler, gewaltige Flüsse, große Schneemassen und ein raues Klima: Schon seit mehr als 600 Jahren leben die Menschen in der Tea Horse Road Area im bergigen Hochland im Südosten Tibets damit, dass ihre Region regelmäßig von Überschwemmungen und Erdrutschen heimgesucht wird. Sie haben gelernt, mit diesen Naturgefahren umzugehen. Es ist dies ein wertvolles Wissen in Zeiten des Klimawandels, in denen viele Regionen der Welt mit Extremwetterereignissen, Starkregen und Flut zu kämpfen haben — und das immer heftiger und immer häufiger.

Dr. Liang Emlyn Yang hat sich vorgenommen, diesen Wissensschatz zu heben. Der Münchner Geograph von der Lehr- und Forschungseinheit Mensch-Umwelt-Beziehungen an der LMU beschäftigt sich mit den Folgen des Klimawandels. Nun wählt er dafür einen etwas anderen Blickwinkel. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht nicht die Frage nach den negativen Auswirkungen der Erderwärmung, der Verwundbarkeit von Gesellschaften, nach Risiken und Verlust. Stattdessen geht es vielmehr genau um die Fähigkeit der Menschen, damit klarzukommen. Es geht ihm um die soziale Resilienz einer Bevölkerung, die in solcherart bedrohten Regionen lebt, in Überschwemmungsgebieten, an Flussufern oder in Küstenzonen. Wie konnten Gesellschaften dort bestehen, sich entwickeln und wachsen — trotz der wiederkehrenden zerstörerischen Naturkatastrophen? Und was kann man für die Zukunft daraus lernen? 

Emlyn Yang will diesen Fragen in den kommenden Jahren mit seinem durch den Europäischen Forschungsrat mit einem Starting Grant geförderten Projekt STORIES näherkommen und dabei herausfinden, wie Klimaanpassung unter dem Blickwinkel der Resilienz funktionieren kann – am Beispiel der Tea Horse Road Area. Ihren merkwürdigen Namen hat die Gegend, weil sie entlang einer historisch wichtigen Handelsstraße zwischen den chinesischen Provinzen Yunnan und Sichuan im Osten und Tibet im Westen liegt. Über gut 2000 Kilometer zieht sich dieser Weg durch die Berge, quert hohe Pässe und gewaltige Flüsse. Gehandelt wurden traditionell Teeballen gegen Pferde. Die lange Siedlungsgeschichte dieser Bergregion im Südosten des tibetischen Hochlands ist besonders gut dokumentiert und ermöglicht damit einen sehr detaillierten Blick in die Vergangenheit. So lässt sich bis zur Gegenwart nachvollziehen, mit welchen Naturgefahren die Bevölkerung dort seit Jahrhunderten zurechtkommen muss — und wie sie das erfolgreich meisterte. 

Ein ideales „natürliches Labor“

„Ich habe in den letzten Jahren bereits in der Tea Horse Road Area sowie in Vietnam und Thailand geforscht und dabei festgestellt, dass die Menschen mit der Zeit viele Strategien entwickelt haben, um auch in Überschwemmungsgebieten siedeln zu können.“ Dazu gehört neben dem Bau von Dämmen, Stauseen und -wehren zum Beispiel auch eine solidere Bauweise ihrer Häuser. „Kleine Veränderungen haben da oft ausgereicht — zum Beispiel die, die Ebene des Erdgeschosses etwas höher anzulegen.“

Das sei, so sagt Yang, nur ein Beispiel für solche Anpassungen, die es den Menschen in den vergangenen Jahrhunderten ermöglicht haben, nicht nur in den sicheren Hochlagen zu siedeln, sondern auch in den von Flut bedrohten Tälern neue Siedlungsgebiete zu erschließen. Der Münchner Wissenschaftler hat beobachtet, dass viele dieser Gesellschaften nicht nur Bestand haben, sondern sogar wachsen. Menschen entscheiden sich also bewusst dafür, in Gebieten mit hohem Hochwasserrisiko zu leben und können mit dieser Bedrohung klarkommen. Yang will in seinem Projekt STORIES herausfinden, wie sich diese Resilienz entwickelt hat.

Die Tea Horse Road Area war schon immer von Flut und Hangrutschen betroffen; die Umweltgeschichte der Region ist über 600 Jahre hinweg so gut dokumentiert, dass sie sich auf der Ebene von Städten und Gemeinden, ja sogar von Haushalten für gesamte Großregion nachvollziehen lässt. Daher ist sie für Yang ist ein ideales „natürliches Labor“ zur systematischen Analyse gesellschaftlicher Resilienz in Zeit und Raum. „Wenn man nur ein einziges Flutereignis betrachtet, ergibt sich daraus nur ein sehr enges Bild menschlicher Resilienz.“ Betrachte man aber Überflutungen und Hangrutsche über längere Zeit, sei es möglich, sich ein Bild davon zu machen, wie die betroffenen Gesellschaften Fortschritte bei der Bewältigung solcher Naturkatastrophen gemacht haben.

Doch wie wird der Begriff Resilienz mess- und vergleichbar? Wie lässt er sich quantitativ erfassen? „Die Resilienz einer menschlichen Gesellschaft setzt sich aus vielen verschiedenen Komponenten zusammen“, sagt Yang. Wichtig sind dabei Aspekte wie Governance, Technologieentwicklung, Gesellschaftsstruktur und Kultur. Als Indikatoren dienen neben der Bevölkerungsdichte auch beispielsweise das Verkehrs- und Handelsaufkommen, die Dichte des Straßennetzes und das Vorhandensein von Maßnahmen zum Hochwasserschutz oder Plänen für die Notfallversorgung. Durch ein sogenanntes Indexsystem können die Forscherinnen und Forscher solchen Indikatoren Werte zuordnen und so Resilienz mathematisch quantifizieren — eine Voraussetzung für räumliche und zeitliche Vergleiche.

Emlyn Yang und sein Team werten Dokumente aus historischen Archiven und wissenschaftliche Literatur aus. Dabei hilft den Forschenden die relativ gute Dokumentation der Eroberung der Region durch die chinesische Zentralregierung der Ming-Dynastie in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Um in der neuen Provinz regieren zu können, musste die Zentralregierung im weit entfernten Peking um die lokalen Gegebenheiten wissen. So wurde erfasst, wie viele Menschen in den Gebieten lebten, welche Ressourcen das Land bot, was sich dort anbauen ließ und welche Naturgefahren es gab. Die Untersuchungen der chinesischen Beamten liefern noch der modernen Forschung wertvolle Hinweise. 

Hinzu kommen die Berichte, in denen die örtliche Verwaltung in der Tea Horse Road Area in den folgenden Jahrhunderten die Zentralregierung über Flutereignisse und andere Naturkatastrophen wie Hangrutsche oder Erdbeben informierte. Darin wurden Schäden und Präventionsmaßnahmen meist sehr detailliert aufgeführt, denn es ging auch um Forderungen nach staatlichen Finanzhilfen oder der Minderung von Abgaben. „Gerade um finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau aus Peking zu erhalten, war es notwendig, sehr genau darzulegen, wie viele Menschen gestorben oder wie viele Häuser und Straßen zerstört worden waren“, sagt Emlyn Yang.

Daten sammeln seit der Ming-Dynastie

Besonders interessant für die Auswertung sind dabei die großen Flutereignisse in der Geschichte der Tea Horse Road Area. Doch nicht aus jedem Jahr sind gleich viele gut erhaltene Dokumente verfügbar, nur ein kleiner Teil der Schriftstücke und historischen Landkarten ist digitalisiert. Für die Forschenden bedeutet das viel Recherchearbeit in Archiven und Bibliotheken vor Ort. Emlyn Yang wird also in den kommenden Jahren immer wieder mit seinem Team aus Postdocs und Doktoranden für mehrere Wochen nach Tibet reisen, um Daten zu sammeln. „Wir werden neben den historischen Ereignissen auch die aktuelle Situation erforschen und dazu die lokale Bevölkerung auch zu ihren Erlebnissen bei den Überschwemmungen der letzten Jahre befragen“, sagt Yang. „Wenn wir die Daten von früher und heute miteinander vergleichen, können wir sehen, wie sich die Resilienz der Menschen vor Ort entwickelt hat.“ 

Bleibt zu klären, ob sich solche Erkenntnisse aus der Tea Horse Road Area auch auf andere durch Flut bedrohte Gebiete der Welt übertragen lassen. Emlyn Yang hofft Muster zu finden, die er mit Daten aus dem Mekong Delta in Vietnam vergleichen möchte. So ließe sich abschätzen, wie man langfristig auch Modelle für weitere Regionen entwickeln könnte, etwa auch für Hochwasserrisikogebiete in Europa. 

Eine Tendenz, dass die Resilienz in Gebieten mit großen Naturrisiken mit der Zeit im Allgemeinen wuchs, sieht Yang auch in Europa: In den Niederlanden zum Beispiel haben sich die Menschen seit Langem durch entsprechende Infrastruktur, Dämme, Deiche und Frühwarnsysteme an die Gefahren der Küste angepasst. Und: Je höher der Lebensstandard und je besser die wirtschaftliche Lage, desto mehr Investitionen in Schutzmaßnahmen gegen Naturgefahren sind möglich.

„Menschliche Gesellschaften haben mit der Zeit große Fortschritte gemacht, wenn es darum geht, mit Überflutungen umzugehen — die Resilienz hat also zugenommen.“ Das werde im Gespräch über Klimawandelfolgen oft vergessen. „Nicht alles wird also immer nur schlimmer und wir sollten eine optimistische, konstruktive Perspektive auf das Thema Flut und Hochwasserschutz beibehalten.“ 

Angesichts der Bedrohung durch Überflutungen und Hangrutsche geht es dabei nicht nur um technische Maßnahmen wie Dämme oder eine hochwassersichere Bauweise. Ganz entscheidend ist auch die psychische Widerstandskraft. „Ich habe die Menschen immer wieder gefragt: Warum lebt ihr hier? Warum seid ihr sogar bewusst hergezogen und habt hier Häuser gebaut?“ Emlyn Yang hat hier viele Parallelen beobachten können in den unterschiedlichen von Flut bedrohten Gebieten – überall spielt die mentale Fähigkeit, mit dem Risiko zu leben, eine große Rolle. Nicht nur mit den Schäden, auch mit der Bedrohung muss man also umgehen können.

„Die entscheidende Frage ist für mich: Was können wir aus der Geschichte der Tea Horse Road Area lernen, um mit den Folgen des Klimawandels jetzt und in Zukunft zurechtzukommen?“ Zu verstehen, wie Menschen es in der Vergangenheit geschafft haben, mit Überflutungen zu leben, da ist sich Yang sicher, kann auch heute wertvolle Hinweise liefern. In vielen Regionen der Welt lassen sich Schäden durch den Klimawandel nicht mehr verhindern. „Wir müssen uns hier und heute Gedanken machen, wie wir uns anpassen – und wie wir damit besser leben können.“

Dr. Liang Emlyn Yang 

ist Wissenschaftler der Lehr- und Forschungseinheit Mensch-Umwelt-Beziehungen am Department Geographie der LMU. Anfang 2022 zeichnete ihn der Europäische Forschungsrat mit einem seiner Starting Grants aus.

diesen Artikel teilen:

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Aktuelles aus der Forschung

„Ein großes Potenzial“

„Diversity4Research”: Eine Initiative für mehr Vielfalt in der Forschung

Die feinen Unterschiede

Stoffwechsel und Immunsystem funktionieren bei Frauen in Teilen anders als bei Männern.

Das Wissen der Anderen

Interkulturelle Universitäten pflegen einen ungewöhnlichen Crossover von Wissenstraditionen.

„Die Anreize richtig setzen“

Über den Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung

Muster des Fortschritts

Editorial zum Schwerpunkt

Anders wachsen

Wie soll ökonomischer Fortschritt in Zukunft definiert werden?

Ein Best-Practice-Modell

Wie gut liberale Demokratien für gesellschaftlichen Fortschritt stehen

Fühl mal

Wobei kann uns Empathie helfen?

Länger leben, besser leben

Woran lässt sich medizinischer Fortschritt festmachen?

Die Macht des Zufalls

Leben entwickelt sich ständig weiter, doch Fortschritt ist dafür kein passender Begriff.

Exakte Unordnung

Der Werkstoff Graphen und ein magischer Winkel: Physik mit einem neuen Twist

Mehr als eine Frage der Herkunft

Wie sollen ethnologische Museen in Zukunft von der Welt erzählen?

Büchertisch

Neues von Christof Mauch und Friedhelm Hoffmann

Die Zukunftsfrage

Eine neue Realität: Was folgt aus dem Ukraine-Krieg für die Weltordnung?

Impressum

Das LMU-Magazin

Licht an – Was die Welt erstrahlen lässt

Nummer 1 / 2024

Echt jetzt – Natürlich, künstlich: Die Grenzen verschwimmen

Nummer 2 / 2023

Zusammenhalten – Vom Wert der Kooperation

Nummer 1 / 2023

Ruf der Wildnis – Was die Natur von uns verlangt

Nummer 2 / 2022

Muster des Fortschritts – Was uns voranbringt

Nummer 1 / 2022

Raus ins Leben – Eine Generation nach dem Lockdown

Nummer 2 / 2021