Nichtakademikerkinder an der Uni

Stolz statt Scham

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Wer sich als Erstes in der Familie und ohne Unterstützung der Eltern an die Uni wagt, steht vor vielen Herausforderungen, die für andere Studierende selbstverständlich sind. Anstatt offen darüber zu sprechen, betrachten das viele als Stigma. Ganz anders in den USA, wo der Bildungsaufstieg jede Menge Respekt erntet. Eine Studentin und eine Professorin ergreifen jetzt stellvertretend das Wort, um Mut zu machen und für mehr Verständnis zu werben.

Leana Barac fühlte sich zu Beginn ihres Jurastudiums an der LMU trotz exzellenter Noten fehl am Platz. Sie kommt aus einem Nichtakademikerhaushalt, ihre Eltern verließen die Heimatstadt Livno im heutigen Bosnien in den 90er-Jahren, um im Ruhrgebiet neues Zuhause zu finden. In der Einführungsvorlesung saßen aber nur Akademikerkinder. Als sie dann noch ihre Sitznachbarin fragte, was „BGB“, die Abkürzung für das Bürgerliche Gesetzbuch, bedeuten würde, erntete sie nur entgeisterte Blicke. „Ich musste mir vieles erst erarbeiten, was für andere selbstverständlich war“, erzählt die heute 25-Jährige. Während bei den Kommilitoninnen und Kommilitonen die Eltern als Juristen oder Germanisten bei der Hausarbeit helfen konnten, war Leana schon in Schulzeiten auf sich allein gestellt.

Doch die gebürtige Essenerin gab nicht auf – keine Selbstverständlichkeit. Laut Hochschulbildungsreport beginnen Jugendlichen aus Nichtakademikerhaushalten nicht nur viel seltener ein Studium als Akademikerkinder, sie brechen es auch deutlich häufiger ab. „Neben den finanziellen Sorgen hatte ich auch Zweifel, ob ich das Studium schaffe“, erinnert sie sich. Zum Glück hat die Oma ihr damals gut zugeredet und sie bei ihrem Wunsch nach einem akademischen Werdegang unterstützt. Daraufhin waren auch Vater und Mutter einverstanden, dass Leana nach München zieht und ihren Weg selbstständig geht. Doch nicht alle jungen Menschen haben so tolerante Eltern und vor allem eine so hartnäckige Oma..

Motivation von der Sozialarbeiterin

Was viele nicht wissen: Nicht nur Studierende, sondern auch Dozentinnen und Dozenten sind „First-Generation-Academics“. Beispielsweise Professorin Verena Höfig vom Institut für Nordische Philologie an der LMU. In ihrer Familie hatte niemand Abitur. Die Skandinavistin und Historikerin verdankt ihren Werdegang einer Sozialarbeiterin, die sich um Familien mit Suchterkrankung gekümmert hat. „Sie hat mir damals den Floh ins Ohr gesetzt, dass ich mit einem Stipendium zum Studieren in die USA gehen kann“, erzählt Höfig. Obwohl sie kaum familiäre Unterstützung hatte und die Situation zu Hause so schwierig war, dass sie mit 16 Jahren auszog, lernte sie viel und gerne und hatte guten Noten. Und so ging sie nach ihrem Abitur und Studium tatsächlich mit Stipendium zum Promovieren in die USA.

Erst dort ist ihr bewusst geworden, dass man stolz darauf sein sollte, wenn man als erste Person in der Familie studiert. „Davor war das für mich immer ein Stigma, das es zu verbergen galt.“ Anders als in Deutschland gelten Nichtakademikerkinder in den USA als resilienter, disziplinierter und diverser als Studierende aus einem wohlhabenden Bildungshaushalt. „Es ist extrem wichtig, dass Menschen wie wir auch hier sichtbarer werden.“ Immer wieder habe sie früher wie Leana das Gefühl beschlichen, nicht an die Uni zu gehören. Deswegen brauche es mehr Verständnis dafür, wie es ist, sich ohne familiäre Unterstützung, mit Migrationshintergrund, Krankheit oder Behinderung durchkämpfen zu müssen.

Verleihbücher als Gesprächsöffner

Höfig hat zum Beispiel immer einen Satz Lehrbücher zum Verleihen, wenn die Anschaffung jemandem finanziell wehtut. „Den braucht natürlich nicht jedes Arbeiterkind, aber es ist eine symbolische Einladung zum Gespräch.“ Einmal habe ein Student in ihrem Seminar keinen Laptop gehabt. Die Professorin bot ihm daraufhin an, nach einer Lösung zu suchen. „Das war ihm aber sehr peinlich“, erzählt sie. In den USA werde so etwas deutlich lockerer gehandhabt. Wichtig sind in ihren Augen daher entsprechende Mentoringprogramme, Vernetzungstreffen und Sichtbarkeit für Stipendienprogramme wie zum Beispiel das Deutschlandstipendium, wo soziale Aspekte im Vordergrund stehen. Auch die LMU hat beispielsweise während Corona als einzige bayerische Uni bedürftige Studierende aus eigenen Stiftungsmitteln unterstützt. Ohne dieses hätte sich auch Leana ihr Studium niemals leisten können.

Höfig empfiehlt außerdem Arbeiterkind.de. Dort informieren 6.000 Ehrenamtliche, wie der Schritt an die Hochschule gelingt, welche Fächer es gibt und wie sich das Studium ohne Unterstützung von den Eltern finanzieren lässt. Sie selbst half während ihrer Zeit in den USA bei allen Fragen rund um ein Auslandsstudium. Auch Leana engagiert sich dort. Sie wisse aus eigener Erfahrung, wie oft sich Nichtakademikerkinder missverstanden und allein fühlten. „Gerade diese jungen Menschen dabei zu unterstützen, den Bildungsaufstieg zu schaffen, ist mir eine echte Herzensangelegenheit.“ Ihr persönlich ist das schon mal gelungen. Im Sommer hat sie ihr Studium erfolgreich beendet. Nach dem zweiten Staatsexamen will sie Richterin werden.

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https://lmu.de/deutschlandstipendium
www.arbeiterkind.de

Leana Barac (links) und Verena Höfig

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