Rachel Salamander wurde in einem Lager für während des Zweiten Weltkriegs verfolgte Juden geboren. Das prägte sie. Obwohl sie aus ärmlichen Familienverhältnissen stammt und damals der Frauenanteil an Universitäten noch deutlich geringer war als heute, studierte und promovierte sie an der LMU. Anschließend eröffnete sie eine Buchhandlung mit Literatur zum Judentum, um unter anderem den unter Hitler verbrannten Büchern und ihren Autoren symbolisch wieder eine Heimat zu geben. Für ihr Engagement in Sachen jüdischer Literatur und Kultur erhielt sie unter anderem das Bundesverdienstkreuz und den Bayerischen Verdienstorden. Sie ist Ehrenbürgerin der Stadt München. Aktuell zeigt das Jüdische Museum eine Ausstellung über sogenannte Displaced Persons (DP) wie sie.
MUM: Frau Salamander, wie kam es zu der Ausstellung „München Displaced. Der Rest der Geretteten“ im Jüdischen Museum, die noch bis Mitte März 2024 zu sehen ist?
Rachel Salamander: Geplant hat sie das Jüdische Museum, aber ich war in doppelter Hinsicht Objekt der Ausstellung. Zum einen, weil ich selbst in einem DP-Lager geboren bin. Dort waren nach der Schoah die jüdischen Menschen untergebracht, die Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt haben oder nach den Pogromen im Nachkriegspolen nach Deutschland, meist in die amerikanische Zone, geflüchtet sind. Die Stadt München lag nach der Befreiung durch die Amerikaner ja in Trümmern. Das einstige deutsche Judentum hatte aufgehört zu existieren. Im Juli 1945 wurde die jüdische Kultusgemeinde mit den hauptsächlich osteuropäischen Überlebenden neu gegründet.
MUM: Und in welcher Hinsicht waren Sie noch Objekt der Ausstellung?
Salamander: Weil es um die Synagoge in der Münchner Reichenbachstraße geht. Sie ist eine der wenigen, die während der Reichspogromnacht 1938 nicht niedergebrannt wurde. Die Feuerwehr löschte den Brand schnell, um ein Übergreifen auf die Nachbargebäude zu verhindern. Durch ihren Bauhausstil ist sie ein einzigartiges Denkmal der Moderne und war der letzte Sakralbau in München vor der NS-Zeit überhaupt. 1947 wurde sie nur notdürftig wieder instand gesetzt. Vor mehr als zehn Jahren habe ich die Initiative ergriffen, dieses Baudenkmal in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen – mit Erfolg. Sie wird gerade wiederhergestellt. Sonst wäre sie heute wahrscheinlich schon verfallen. Einige Objekte der Synagoge sind an die Ausstellung verliehen und zu sehen.
MUM: Sie haben an der LMU studiert. Wieso sind Sie vor Ihrem Studium erst auf eine Handelsschule gegangen?
Salamander: Ich komme aus ärmlichen Familienverhältnissen und wollte daher schnell einen Beruf erlernen. Doch ich wollte mich weiter bilden. Also habe ich mich wahnsinnig angestrengt, um den Numerus Clausus für mein Medizinstudium zu schaffen. Damals wollte ich Kinderärztin werden. Ich habe aber schnell gemerkt, dass ich Menschen lieber in der geistigen als in der anatomischen Welt helfe. So habe ich ab 1970 Romanistik, Germanistik und Philosophie studiert.
MUM: Wie haben Sie Ihre Studienzeit an der LMU in Erinnerung?
Salamander: Mir wurde im Leben nichts geschenkt. Die Schoah hatte uns von jeglichem jüdischen Erbe abgeschnitten, auch von Wissen und Bildung. Alles musste erworben werden, das jüdische, aber auch das mir fremde deutsche Bildungswissen. Schon früh interessierte ich mich für die deutsch-jüdische Literatur und Kultur. Im Germanistikstudium arbeitete ich beispielsweise über Goethes Verhältnis zum Judentum. Das Thema steckte damals noch in den Kinderschuhen. Ursprünglich wollte ich nicht zum Verstehensbegriff promovieren, sondern mit einer Arbeit, die Jiddisch und das Mittelhochdeutsche vergleicht. Aber es gab zu dieser Zeit noch niemanden, der mich bei diesem Thema hätte betreuen können. Heute existieren zum Glück viele Lehrstühle für Jiddisch.
„Es ging um nichts Geringeres
als die Rekonstruktion der
zerstörten geistigen jüdischen Welt.“
MUM: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Alma Mater?
Salamander: Als ich 2020 den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf bekam, erinnerte ich mich an mein erstes Proseminar, wo es um den Vormärz ging, also auch über Heine (lacht). Den Kontakt zur Uni habe ich immer aufrechterhalten. Selbst als ich in den 90er-Jahren schon voll in meinem Projekt „Literaturhandlung“ eingebunden war, hielt ich mit dem LMU-Komparatistiker Professor Jürgen Wertheimer zwei Semester lang Seminare über „Juden in der deutschen Literatur“ ab. Später war ich Hochschulrätin im ersten, gerade konstituierten Hochschulrat und habe zweimal die Laudationes bei der Geschwister-Scholl-Preisverleihung gehalten.
MUM: War es mehr Traum oder Überzeugung, eine Buchhandlung zu eröffnen?
Salamander: Letzteres. Das liegt an meinem Lebenslauf. Ich habemit summa cum laude promoviert und hätte die Möglichkeit gehabt, an der Uni zu bleiben. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte uns Nachkriegsjuden vor eine Ausnahmesituation gestellt hat: Wir kamen vom Massenmord an den Juden her und standen vor dem Nichts beim Neuanfang. Wie lässt sich das Verlorengegangene rekonstruieren? Immerhin ging es um nichts Geringeres als die Rekonstruktion der zerstörten geistigen jüdischen Welt. Ich hatte das Bedürfnis, mit meiner Aktivität an die Öffentlichkeit zu gehen.
MUM: Ihre Literaturhandlung hat 2022 ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert. Haben Sie Ihr Ziel erreicht?
Salamander: Nach der Arisierung des deutschen Buchhandels wollte ich alle Bücher, die verbrannt, und alle Autorinnen und Autoren, die ermordet worden waren, wieder in dieses Land einbürgern und beheimaten. Ich bin froh, diesen Schritt gegangen zu sein. Ich konnte mit meiner bildungspolitischen Arbeit dem Jüdischen im öffentlichen Bewusstsein Präsenz verleihen und mit der Literatur zum Judentum sowie einem umfangreichen Kulturprogramm Strahlkraft und große Resonanz erreichen. Nachdem ich nicht an der Uni bleiben wollte, habe ich mir dafür aber bis zu unserem Umzug an das jüdische Museum am Sankt-Jakobs-Platz einen Platz in unmittelbarer Nachbarschaft zur LMU gesucht (lacht).
Interview: dl
Blick in die Ausstellung „München Displaced. Der Rest der Geretteten“ im Jüdischen Museum, die noch bis Mitte März 2024 zu sehen ist.
Nach dem Krieg eröffneten Hunderte kleine Geschäfte an der Möhlstraße in Bogenhausen. Die meisten Händler waren Displaced Persons – Überlebende des Holocaust.
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