MUM: Herr Anbuhl, ein Studium war noch nie einfach. Jetzt müssen die Studierenden aber zusätzlich noch verschiedene Krisen durchstehen. Was macht das mit den jungen Menschen?
Matthias Anbuhl: Die Auswirkungen von Pandemie, Inflation und Energiekrise stellen die Studierenden vor existenzielle Nöte. Sie kommen auf dem Zahnfleisch aus den Onlinesemestern und fragen sich jetzt, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Hinzu kommen die steigenden Preise für Lebensmittel. Dabei sind die Budgets der Studierenden schon auf Kante genäht. Früher ging es in den psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke vor allem um Prüfungsängste. Heute werden sie wegen existenzieller finanzieller und psychischer Probleme förmlich überrannt.
MUM: Durch die BAföG-Reform beträgt die Wohnpauschale jetzt 360 Euro. Das sind immer noch 54 Euro weniger, als ein WG-Zimmer im Durchschnitt in einer deutschen Universitätsstadt kostet. Reicht das?
Anbuhl: Bei der Reform gibt es Licht und Schatten. Bei den Elternfreibeträgen hat die Bundesregierung nicht gegeizt. Auch die Anhebung der Altersgrenze war ein wichtiger Schritt. Aber die neue Wohnkostenpauschale entspricht weiterhin nicht dem Bedarf in Hochschulstädten. Die Bedarfssätze wurden nur um 5,75 Prozent erhöht und werden damit von der Inflation aufgefressen. Hier braucht es eine erneute und vor allem regelmäßige Anpassung des BAföG, wie etwa in Österreich. Außerdem haben noch immer 40 Prozent der Studierenden keinen Anspruch auf BAföG, weil sie zum Beispiel durch einen Studienfachwechsel zu lange studiert haben. Diese Regelung muss endlich der Lebenswirklichkeit angepasst werden.
MUM: Um sich ihren Lebensunterhalt leisten zu können, müssen immer mehr Studierende immer mehr arbeiten. Bei manchen übersteigt der Job sogar die Zeit, die sie fürs Studium aufbringen. Ist das noch Sinn der Sache?
Anbuhl: Das ist nicht der Gedanke, wie ein Studium funktionieren soll. Wir wissen, dass schon im Jahr 2016 über zwei Drittel der Studierenden neben dem Studium gejobbt haben und ein Drittel finanziell auf einen Nebenjob angewiesen war. Nächstes Jahr werden aktuelle Zahlen veröffentlicht. Jede Stunde Erwerbsarbeit schmälert die Zeit für das Studium. Daher sollten die BAföG-Sätze weiter angehoben und der Empfängerkreis ausgeweitet werden. Nur elf Prozent der Studierenden haben überhaupt Anspruch auf BAföG.
MUM: Durch Corona konnten viele Studierende nicht arbeiten und nichts sparen. Befürchten Sie, dass sich durch die Energiekrise viele ihr Studium nicht mehr leisten können und abbrechen müssen?
Anbuhl: Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung kam es während der Pandemie glücklicherweise nicht zu signifikant höheren Studien-abbrüchen als vorher. Aber wenn die Miet- und Nebenkosten weiter steigen, drohen natürlich Existenznöte. Studienabbrüche aus Geldmangel kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.
MUM: Was bedeutet die Preisentwicklung für Jugendliche aus Nichtakademikerfamilien? Von ihnen beginnen laut Hochschulbildungsreport überhaupt nur 21 Prozent ein Studium, bei Akademikerkindern sind es 74 Prozent.
Anbuhl: Wir müssen aufpassen, dass junge Menschen nicht von einem Studium abgeschreckt werden, weil ihre Eltern weniger verdienen und von den aktuellen Krisen härter getroffen sind. Um die soziale Selektivität des deutschen Hochschulsystems nicht noch weiter zu erhöhen, ist es daher wichtig, Studierenden mit Direkthilfen unter die Arme zu greifen.
MUM: Viele Studierende engagieren sich ehrenamtlich oder politisch. Bleibt das durch die Doppelbelastung aus Studium und Job zunehmend auf der Strecke?
Anbuhl: Im Moment habe ich nicht das Gefühl. Wir erleben nach wie vor, dass Studierende sich stark engagieren und damit die gesamte Studierendenschaft politisieren, zum Beispiel für einen geringeren CO2-Fußabdruck in unseren Mensen. Nachhaltiges Wirtschaften hat für sie einen riesigen Stellenwert. Aber klar: Wenn Studierende nicht mehr wissen, wie sie Strom, Gas oder Butter bezahlen sollen, gerät das zunehmend in den Hintergrund.
MUM: Spielen die Belastungen durch die Pandemie an den psychosozialen Beratungsstellen der Studentenwerke noch eine Rolle?
Anbuhl: Corona ist immer noch ein Riesenthema. Ganz Europa steckt in einer Mental-Health-Krise. Unsere Wartezeiten haben sich seit der Pandemie verdoppelt. Vielen machen soziale Isolation, Vereinsamung und depressive Verstimmungen nach wie vor zu schaffen. Nicht selten wird das Studium infrage gestellt, manche haben sogar suizidale Gedanken.
MUM: Was passiert, wenn Hochschulen im Winter wegen Corona oder der Energiekrise schließen müssen?
Anbuhl: Das wird natürlich zu weiteren psychischen Belastungen führen. Hochschulen müssen daher über den Herbst und Winter unbedingt offen bleiben. Ich befürchte aber, dass wegen der steigenden Energiekosten viele Hochschulen sparen müssen und die Winterferien wie schon letztes Jahr wegen Corona verlängert werden – auf Kosten der Präsenzlehre. Wir fordern daher, Hochschulen ähnlich wie Krankenhäuser zur kritischen Infrastruktur zu zählen. Studierenden sind weitere Onlinesemester nicht mehr zuzumuten.
MUM: Das Deutsche Studentenwerk feierte kürzlich 100-jähriges Jubiläum. Welche Forderungen haben Sie an die Politik?
Anbuhl: Wir brauchen zum einen mehr finanzielle Unterstützung für die Studierendenwerke durch die Bundesländer. Auch wir leiden bei unseren Wohnheimen und Mensen unter den Preissteigerungen, die wir aber nicht eins zu eins an die Studierenden weitergeben wollen. Zum anderen muss die psychosoziale Beratung stärker in den Blick genommen und von Bund und Ländern in den nächsten vier Semestern mit zehn Millionen Euro unterstützt werden.
> Interviews: dl
Matthias Anbuhl ist Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks.
Er war Leiter des Parlamentarischen Verbindungsbüros der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Berlin sowie der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Anbuhl ist Experte für alle Bereiche des Bildungssystems, von der frühkindlichen Bildung über die Hochschulen bis hin zur beruflichen Aus- und Weiterbildung.
0 Kommentare