Den Schatz der Sprache heben
Barrieren überwinden: Über die Förderung von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung oder Sprachentwicklungsstörungen

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Sprache ist Treibstoff für menschliches Miteinander, für Gesellschaft und Kultur. Doch was, wenn sie Einzelnen nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht? Sprachheilpädagoge Andreas Mayer erforscht Ursachen und Möglichkeiten der Förderung. Foto: Alessandra Schellnegger

Sprache ist menschlich. Sie ist eine Besonderheit unserer Spezies und macht gleichzeitig den Menschen aus. Zwar kommunizieren auch andere Lebewesen untereinander, aber allein der Homo sapiens nutzt dafür ein logisches System aus Lauten und Begriffen, also das, was wir Sprache nennen. Und mithilfe dieser Sprache drücken wir Emotionen aus, nutzen sie zum rationalen Denken und um Handlungen zu planen. Sie ist der entscheidende Treibstoff für menschliches Miteinander, für Gesellschaft und Kultur. 

Doch was, wenn Einzelnen dieses menschliche Universalwerkzeug nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht? Ursachen dafür kann es viele geben: eine Hörschädigung etwa oder körperliche, kognitive oder psychische Einschränkungen. „Bei sechs bis acht Prozent eines Jahrgangs treten zudem Sprachentwicklungsstörungen ohne erkennbare Ursache auf“, sagt Professor Andreas Mayer, Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheilpädagogik an der LMU. „Sie gehören damit zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter.“

Die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen mag überraschen. „Das liegt daran, dass sie oft nicht richtig erkannt werden“, sagt Mayer. Kinder beginnen unterschiedlich früh zu sprechen: Während manche bereits mit acht Monaten erste verständliche Worte artikulieren, geht es bei anderen erst mit zwei Jahren los, so dass es für Eltern und Erziehende in Kindertagesstätten oft schwer ist abzugrenzen, ob ein Kind einfach nur spät dran ist, oder ob eine Störung vorliegt. Und: Kinder haben Schwierigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen. So können Aussprache, aktiver Wortschatz, aber auch Sprachverständnis eingeschränkt sein. „Am auffälligsten sind noch Probleme bei der Aussprache, die werden am ehesten bemerkt, so dass man die betroffenen Kinder frühzeitig gezielt fördern kann“, sagt Mayer. Auch wenn der Wortschatz weit unter dem alterstypischen Umfang liegt oder Kinder wirr und für den Zuhörer nicht nachvollziehbar erzählen, sticht das eher hervor, als wenn das Verstehen von Sprache betroffen ist. 

Beim Sprachverständnis können wiederum zwei Ebenen beeinträchtigt sein: das Verstehen einzelner Worte oder Satzbau und Grammatik. Ein Beispiel wäre „Die Katze jagt die Maus“ versus „Die Katze wird von der Maus gejagt“ – einmal aktiv einmal passiv. „Kinder mit Schwierigkeiten im Sprachverständnis können hier aber nicht unterscheiden, wer Jäger und wer Gejagter ist“, so Mayer. Sie verstehen also den Bezug und damit die Aussage nicht.

Wer ist Jäger und wer Gejagter?

Es liegt auf der Hand, dass derartige Beeinträchtigungen zu vielerlei Problemen führen – oft auch noch im Erwachsenenleben. In Kita und Schule haben Kinder Schwierigkeiten, Aufgabenstellungen zu verstehen. Das führt oft auch zu schwachen Leistungen in Fächern, die gar nicht direkt betroffen sind: Versteht ein Kind im Matheunterricht eine Textaufgabe nicht, kann es diese nicht lösen – selbst dann, wenn ihm das Rechnen eigentlich gar keine Schwierigkeiten bereitet. Das führt zu Frustration, schlechtem Selbstwertgefühl, aber auch zu schlechteren Bildungschancen. In der Berufsausbildung und am Arbeitsplatz können Aufträge nicht zur Zufriedenheit ausgeführt werden, wenn Betroffene sie schlicht nicht richtig auffassen.

Darüber hinaus ist auch das soziale Miteinander beeinträchtigt: Versteht ein Kind seine Mitschüler nicht, kann es nicht adäquat auf sie reagieren. Gemeinsames Spiel ist so kaum möglich. „Häufig verstehen betroffene Kinder auch Mimik und Körpersprache ihrer Mitmenschen nicht,“ benennt Mayer das Ausmaß. „Das kann dann beispielsweise dazu führen, dass sie es als Angriff interpretieren, sobald sich ein Mitschüler an sie wendet.“

Spielerisch den Zugang finden: Andreas Mayer entwickelt Lernhilfen, um Kinder in ihrer Sprachentwicklung zu fördern. Foto: Alessandra Schellnegger

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Mayer in einer Untersuchung festgestellt hat, dass ein hoher Anteil der Kinder, die aufgrund von Defiziten in ihrer sprachlichen Entwicklung eine sonderpädagogische Fördereinrichtung besuchen, auch psychisch auffällig war. Gleichzeitig zeigte sich auch, dass Kinder, die aufgrund von psychischen Auffälligkeiten einer Schule zur Erziehungshilfe besuchen, zu mehr als 70 Prozent in mindestens einem Bereich auch sprachliche Defizite aufwiesen.

„Bei sechs bis acht Prozent eines Jahrgangs treten Sprachentwicklungsstörungen ohne erkennbare Ursache auf.“

Für Mayer steht dies aber auch im Zusammenhang mit einem weiteren Punkt, der für seine Arbeit zentral ist: die Sprache die Lehrkräfte nutzen. Bewusst eingelegte Sprechpausen, Visualisierung, Aufmerksamkeitslenkung, bewusster Einsatz von Gestik, eine Wortwahl, die für die Kinder leicht verständlich ist – all das spiele eine entscheidende Rolle für den Unterrichtserfolg, wie Mayer bereits 2009 festgestellt hat. Für ihn ist dieser Teil der Förderung essenziell.

Strategien einüben, um den Inhalt zusammenzufassen

Praxisorientierte Arbeit ist dem Sprachheilpädagogen ein ganz besonderes Anliegen. Das betrifft die Ausbildung von Lehrkräften, aber auch das Entwickeln von speziellen Förderkonzepten, insbesondere im Bereich der Lese- und Rechtschreibkompetenzen. „Man muss sich klar machen, dass Lesen und Schreiben nichts anderes ist als der Umgang mit visualisierter Sprache“, unterstreicht Mayer. Dass es für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen eine besondere Herausforderung ist, sich diesen Bereich zu erschließen, liegt nahe. Der Sonderpädagoge untersucht daher mit seinem Team, welche besonderen Schwierigkeiten Kinder mit Sprachförderbedarf haben – welche Probleme beispielsweise auch am Ende der Grundschulzeit noch bestehen, und mit welchen Strategien sich die betroffenen Kinder am besten unterstützten lassen. 

Mayer hat mit seinem Team ein spezielles Programm zur Förderung des Leseverständnisses entwickelt: „Lesetricks von Professor Neugier“. Es richtet sich an Kinder, die zwar über ausreichende Lesefähigkeiten verfügen, jedoch Schwierigkeiten haben, Informationen aus einem Text zu ziehen. Bei einer Evaluierung im Jahr 2021 zeigte sich, dass es für den Fortschritt der Kinder wichtig ist, einerseits die lexikalen Fähigkeiten, also Wortschatz und Worterkennung, zu fördern und gleichzeitig Strategien einzuüben, um den Inhalt beispielsweise zusammenfassen und wiedergeben zu können. Entscheidend für den Erfolg ist zudem, die Kinder in kleinen Gruppen zu unterrichten, um individuelle Hilfestellung geben zu können.

Mayer entwickelt solche Förderprogramme zur Verbesserung von Lesekompetenzen und der Rechtschreibfähigkeiten jedoch nicht nur für Kinder mit Sprachentwicklungsstörung. „Letztlich möchte ich, alle Kinder dabei zu unterstützen, den Schatz der Sprache zu heben – egal ob geschriebene Sprach oder gesprochen“, sagt er. „Daher mache ich bei meinen Förderprogrammen eigentlich keinen Unterschied: Sie sind für alle Kinder gedacht, die Unterstützung brauchen.“

Stefanie Reinberger

Prof. Dr. Andreas Mayer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheilpädagogik an der LMU. Mayer studierte Sprachheilpädagogik und Verhaltensgestörtenpädagogik an der LMU. Er unterrichtete dreizehn Jahre als Sonderschullehrer in München, bevor er in den Hochschuldienst an der LMU zurückkehrte, wo er auch promoviert wurde. Danach lehrte er an den Universitäten Köln und Potsdam. Er habilitierte sich in Köln, bevor er 2015 an der LMU zum Professor ernannt wurde. 

Mit seinem Forschungsschwerpunkt zur Sprachheilpädagogik ist Professor Andreas Mayer Teil der diesjährigen Initiative „Belonging@LMU“ von Professorin Francesca Biagini, Vizepräsidentin der LMU für Internationales und Diversity.

„Gebärdensprache stiftet Identität“

Barrieren überwinden: Über gesellschaftliche Teilhabe von Heranwachsenden mit Taubheit/Hörbehinderung

„Insgesamt muss unsere Gesellschaft inklusiver werden“, sagen Laura Avemarie und Stefan Goldschmidt. Foto: Cornelia Ruppert 

Sie befassen sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Entwicklung, Förderung und dem Unterrichten von jungen Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung. Wie lässt sich Ihre Zielgruppe beschreiben? 

Laura Avemarie: Zunächst möchten wir die Gruppe in Zahlen vorstellen: In Deutschland leben ungefähr 80.000 taube Menschen, etwa 250.000 nutzen die Deutsche Gebärdensprache – darunter auch Menschen, die mit Hörhilfen versorgt sind. Deutschlandweit werden rund 20.000 Kinder mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation unterrichtet, davon etwa 50 Prozent in inklusiven Bildungssettings und 50 Prozent an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation.

Stefan Goldschmidt: Bei Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Es geht um Personen mit sehr unterschiedlichen Formen und Graden der Hörbehinderung. Manche sind mit Hörgeräten, andere mit Cochlea-Implantaten, mit beidem oder auch nicht versorgt, weil sie Hörhilfen nicht möchten. Einige kommunizieren in Gebärdensprache, einige in Lautsprache oder sie nutzen beide Modalitäten. Bei 90 bis 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Taubheit/Hörbehinderung sind die Sorgeberechtigten hörend, sie werden also in ein primär lautsprachlich kommunizierendes und nicht gebärdensprachkompetentes Umfeld geboren. Das zeigt, dass es in unserem Förderschwerpunkt insbesondere um Fragen des Abbaus von Sprach- und Kommunikationsbarrieren auf verschiedenen Ebenen geht. 

Welche Rolle spielt die Gesellschaft für diese Einschränkungen?

Avemarie: Für die sonderpädagogische Perspektive ist heute die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ der WHO und das zugrundeliegende bio-psycho-soziale Modell leitend. Danach wird „Behinderung“ als mehrdimensionales Phänomen betrachtet, das nicht allein aus einer Einschränkung in den Körperfunktionen und -strukturen resultiert, sondern vielmehr aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer materiellen und sozialen Umwelt entsteht. Würden beispielsweise alle Menschen die Gebärdensprache beherrschen, würden Menschen mit Taubheit in ihrer Aktivität und Teilhabe vermutlich wesentlich weniger Einschränkungen erleben. 

Gleichberechtigte Chancen auf Bildung und Teilhabe

Goldschmidt: Bei gebärdensprachlich kommunizierenden Menschen handelt es sich um eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Durch die starke lautsprachliche Prägung unserer Gesellschaft kommt es zur Diskriminierung von hörenden Menschen gegenüber Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung. Das nennt man Audismus. Es bezeichnet sowohl die bewusste als auch unbewusste Diskriminierung. 

Wo muss die Förderung von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung ansetzen?

Avemarie: Der sichere Erwerb einer Erstsprache bildet das Fundament für die Entwicklung im kognitiven und sozial-emotionalen Bereich. Sie beeinflusst die Bildungs- und Teilhabechancen, den beruflichen Erfolg und die Lebensqualität. Trotz früher Diagnosestellung – das Neugeborenen-Hörscreening ist seit 2009 verpflichtend – weisen Kinder mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten allerdings deutlich häufiger als hörende Kinder sprachliche Auffälligkeiten auf. Besonders gut untersucht ist die Sprachentwicklung bei Kindern mit Cochlea-Implantaten und hörenden Sorgeberechtigten. Demnach gehen wir davon aus, dass im Vorschulalter etwa 70 Prozent Verzögerungen zeigen, während es am Ende der Grundschulzeit noch etwa 30 bis 40 Prozent sind. 

Ein Fokus unseres Förderschwerpunkts liegt daher auf der Frage, wie sich der Erstspracherwerb von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung sichern lässt. Der Erwerb von zwei Erstsprachen – der Gebärden- und Lautsprache – gilt dabei als Königsweg. Die Lautsprache ist für Kinder mit Hörbehinderung an viele Herausforderungen geknüpft, die Gebärdensprache ist hingegen uneingeschränkt wahrnehmbar. 

„Durch die starke lautsprachliche Prägung unserer Gesellschaft kommt es zur Diskriminierung von Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung.“

Stefan Goldschmidt

Gilt der parallele Erwerb von Gebärdensprache und gesprochener Sprache als Zweisprachigkeit?

Avemarie: Wir sprechen von bimodaler Bilingualität, weil Gebärdensprache und Lautsprache in unterschiedlichen Modalitäten realisiert werden. Wissenschaftlich gesichert wissen wir heute: Der Erwerb einer Gebärdensprache unterstützt den Erwerb der Lautsprache und behindert ihn nicht.

Das wurde sehr lange anders gesehen … 

Goldschmidt: Früher wurden Kinder nicht in Gebärdensprache unterrichtet. Der Einsatz von Gebärdensprache im Unterricht war sogar verboten. Stattdessen erfolgte der Unterricht mit Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung meist oral – durch Lehrkräfte, die ausschließlich in der Lautsprache kommunizierten. Das Hör- und Sprechtraining stand im Fokus. Für Kinder mit Taubheit/Hörbehinderung hatte dies seelische Folgen sowie Verzögerungen in der kommunikativen und kognitiven Entwicklung zur Folge. 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache dann in Deutschland gesetzlich als eigenständige Sprache anerkannt. Dabei ist Gebärdensprache nicht nur Mittel zur Kommunikation. Sie ist auch identitätsstiftend für die Gebärdensprachgemeinschaft. Der Zugang zur Deutschen Gebärdensprache (DGS) stellt also eine Bereicherung für die persönliche, soziale, kognitive, emotionale und sprachliche Entwicklung von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung dar.

Wie sieht die Situation heute aus?

Avemarie: Es besteht derzeit noch eine erhebliche Lücke zwischen den Bedarfen an bimodal-bilingualer Bildung – das heißt  einer Bildung in Laut- und Gebärdensprache ab der Frühförderung, – und den Angeboten in der Praxis. Sprachdeprivation ist also weiterhin ein bestimmendes Thema. Sowohl Schulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation als auch Universitäten ermöglichen aber zunehmend entsprechende Bildungsangebote. Wie bimodal-bilingualer Unterricht gelingen kann, untersuchen wir derzeit in einem vom Kultusministerium geförderten Modellprojekt in Bayern. 

Die Problematik beginnt weit vor der Einschulung. Was kann man ihr entgegensetzen? 

Goldschmidt: Eine Hauptursache liegt in den kommunikativen Barrieren im familiären Umfeld sowie in formalen Bildungssettings wie Krippe, Kindergarten und später dann in der Schule. Nur ein geringer Anteil der Sorgeberechtigten und der in der Frühförderung tätigen Fachkräfte beherrscht die Gebärdensprache. Das betrifft auch Lehrkräfte an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. 

Kommunikationsbarrieren auch im familiären Umfeld

Avemarie: Hierzu haben wir aus einem unserer Projekte aktuelle Zahlen: Demnach verfügen nur etwa ein Viertel der Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte in der Frühförderung, die mit Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung arbeiten, nach eigenen Angaben über hohe Kompetenzen in der Deutschen Gebärdensprache.

Hinzu kommen Verunsicherungen aufseiten der Sorgeberechtigten, die die Interaktionsqualität beeinflussen können. 

„Es besteht derzeit noch eine erhebliche Lücke zwischen den Bedarfen an bimodal-bilingualer Bildung und den Angeboten in der Praxis.“

Laura Avemarie

Welche Konsequenzen kann eine Sprachdeprivation haben? 

Avemarie: Sprachdeprivation kann die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung beeinträchtigen. So ist Sprache eine wichtige Grundlage für die sogenannten exekutiven Funktionen, die wir benötigen, um etwa Handlungen zu planen und durchzuführen. Untersuchungen belegen, dass Kinder mit Taubheit/Hörbehinderung von hörenden Sorgeberechtigten häufiger Auffälligkeiten im exekutiven System zeigen als hörende Kinder. Gemeinsam mit einem Team aus den Niederlanden entwickeln wir Programme zur Förderung der exekutiven Funktionen von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung im Vorschul- und Grundschulalter. Ein weiteres Problem ist der durch Sprachbarrieren verkleinerte Interaktionsradius für Kinder und Jugendliche mit Taubheit/Hörbehinderung. Insbesondere für die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung stellt jedoch der Kontakt mit Peers einen wichtigen Motor dar.


Gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Sprachdeprivation und Gewalterfahrungen? 

Avemarie: Ja. Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene mit Taubheit/Hörbehinderung sind deutlich häufiger als hörende Personen oder Personen mit anderen Formen von Behinderung von sexualisierten Gewalterfahrungen betroffen. Das zeigt auch eines unserer aktuellen Forschungsprojekte zur Betroffenheit von digitaler sexualisierter Gewalt. Die Ursachen sind vielfältig und unter anderem auf kommunikative Barrieren mit den Sorgeberechtigten, Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften und Peers zurückzuführen, die den Erwerb von Wissen und Erhalt von Informationen für junge und erwachsene Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung einschränken. Problematisch ist zudem, dass viele Informationen in der Schriftsprache vermittelt werden. Diese basiert auf der Lautsprache und ist damit eine Fremdsprache für taube Menschen, weshalb sie die Informationen nicht im gleichen Ausmaß nutzen können wie hörende Personen. Und nicht zuletzt ist es die fehlende verbindliche Professionalisierung von Lehrkräften im Bereich der Prävention sexualisierter Gewalt, die zu einer erhöhten Betroffenheit von sexualisierter Gewalt in dieser Gruppe beitragen.

Was braucht es, um Förderung, Bildungschancen und Teilhabe für die Zukunft zu verbessern?

Avemarie: Das Hauptziel muss darin bestehen, einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Förderung zu erreichen und so die Entwicklungs- und Teilhabechancen zu verbessern, was sich letztlich auf die Lebensqualität auswirkt. Dazu brauchen wir ein flächendeckendes bimodal-bilinguales Bildungsangebot, bessere Bildungsbedingungen in der Inklusion und stärkeres politisches Engagement zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention für Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung. 

Goldschmidt: Insgesamt muss unsere Gesellschaft inklusiver werden. Der Begriff „Inklusion“ ist für viele immer noch ein Zauberwort. Inklusion und eine „Schule für alle“ werden erst gelingen, wenn die individuellen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen umfassend berücksichtigt werden und ein uneingeschränkter Zugang zu Sprache und Bildung ermöglicht wird. 

Interview: Stefanie Reinberger

Professorin Dr. Laura Avemarie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Sonderpädagogik – Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation einschließlich inklusiver Pädagogik an der LMU. Sie hat Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg studiert, wo sie auch promoviert wurde. Außerdem hat sie das Zweite Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen abgelegt. Vor ihrem Stellenantritt an der LMU im August 2022 war sie Juniorprofessorin für Psychologie bei Gehörlosen und Schwerhörigen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Stefan Goldschmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sonderpädagogik – Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation einschließlich inklusiver Pädagogik an der LMU. Er studierte Soziologie und Deaf Studies an der Gallaudet University in Washington, D.C., einer Universität für Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung. Des Weiteren studierte er Gebärdensprachen und Soziologie an der Universität Hamburg und arbeitete unter anderem am dortigen Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, bevor er 2023 an die LMU wechselte. 

Mit ihrem Forschungsschwerpunkt auf der Inklusion von Menschen mit Taubheit/Hörbehinderung sind Professorin Laura Avemarie und Stefan Goldschmidt Teil der Initiative „Belonging@LMU“ von Professorin Francesca Biagini, Vizepräsidentin der LMU für Internationales und Diversity.

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