Riesige Meereisfelder, kilometerdicke Eisschilde und gigantische Gletscher: Ein paar Wochen nach seiner Rückkehr aus der Antarktis ist Gonzalo Gomez-Saez immer noch völlig überwältigt. „Dort ist man wirklich allein mitten im Nirgendwo, umgeben von unberührter Schönheit“, schwärmt der Biogeochemiker. Fernab der Zivilisation ist der Mensch nur Gast in jener von extremen Bedingungen geprägten Umwelt. Aber auch diese scheinbar so entrückte Welt verändert sich: Das dramatische Schrumpfen des Meereises, steigende Temperaturen und schwindende Gletscher zeigen, dass auch hier der Klimawandel seine Spuren hinterlässt. Gomez-Saez untersucht, wie mikrobielle Gemeinschaften auf die Temperaturveränderungen reagieren.
Alexander Haumann, Professor für Physische Geographie mit Schwerpunkt Ozeanographie am Department für Geographie, blickt vor allem auf die ungelebte Natur: „Vielen ist möglicherweise gar nicht bewusst, welche riesigen Mengen an menschengemachtem CO2 und Wärme der Südliche Ozean speichert“, sagt er. „Die Ozeane als Ganzes nehmen etwa 90 Prozent der Wärme auf, die durch fossile Emissionen zusätzlich im Klimasystem aufgenommen werden. Ungefähr drei Viertel davon landen im Südlichen Ozean. Und beim Kohlendioxid ist das ähnlich. Auch hier wird ein relativ großer Teil im Südlichen Ozean aufgenommen.“ Daher ist dieser bisher eine der wichtigsten Bremsen für die globale Erwärmung.
Als „Kältekammer“ der Erde treibt die Antarktis Luft- und Meeresströmungen an und damit auch globale Kreisläufe, etwa von Wärme und Kohlenstoff. Aber was passiert, wenn der Klimawandel die Ozean-Zirkulation und die Eigenschaften des Südlichen Ozeans verändert? Das ist eine der Fragen, die sich Haumann stellt. Im Gegensatz zu den Tropen und Subtropen, wo die Temperaturunterschiede zwischen warmem Oberflächen- und kaltem Tiefenwasser eine so starke Schichtung erzeugen, dass kaum Austausch stattfindet, mischen sich in der kalten Antarktis die Wasserschichten leichter. „Ungefähr 80 Prozent der globalen Tiefenwassermassen aus Pazifik und Atlantik sehen die Oberfläche erst im Südlichen Ozean wieder“, so Haumann. Weil der tiefe Ozean etwa 40-mal so viel Kohlendioxid enthält wie die Atmosphäre, gibt es in den Polargebieten eine natürliche Freisetzung von CO2, wenn das Tiefenwasser an die Oberfläche kommt, während in anderen Gebieten CO2 vom Ozean aufgenommen wird.
Polargebiete setzten CO2 aus dem Tiefenozean frei
Welchen Einfluss biologische Prozesse auf den in den Ozeanen gespeicherten Kohlenstoff haben, untersucht Gonzalo Gomez-Saez, Leiter einer interdisziplinären Emmy-Noether-Forschungsgruppe am Department für Geo- und Umweltwissenschaften der LMU: Ein erheblicher Anteil des organischen Kohlenstoffs steckt in gelöster organischer Materie, die Radiokarbonanalysen zufolge teilweise seit mehr als 6.000 Jahren im Meer akkumuliert. Warum diese Stoffe nicht verstoffwechselt werden, stellt Meereswissenschaftler noch vor Rätsel. Als Gastwissenschaftler auf der Reise „Journey to Antarctica“ von Lindblad Expeditions und National Geographic (finanziert aus Mitteln von LEX-NG) hatte Gomez-Saez die Gelegenheit, die Antarktis zu bereisen. Dort sammelte er gemeinsam mit seinem Kollegen David Velázquez, National Geographic Explorer von der Autonomen Universität Madrid Wasser, Eis und Bodenproben– teilweise vermummt in Ganzkörperschutzanzügen. So sollten vor allem die dort lebenden Pinguine vor der Ansteckung mit Vogelgrippe geschützt werden. „Eine besondere Herausforderung war, unsere Proben zu konservieren, ohne dass es zu einem Wachstum der Mikroben oder zu Zellschäden kommt“, erinnert sich Gomez-Saez. „Aber ich bin zuversichtlich, dass wir aufregende Ergebnisse über das Zusammenspiel zwischen Mikroben und gelösten organischen Stoffen in diesem empfindlichen Ökosystem erhalten werden.“
Derzeit sind die Proben noch bei minus 20 Grad in Ushuaia in Argentinien eingelagert. Sobald sie in seinem Labor in München ankommen, wird Gomez-Saez die Fähigkeit der Mikroben untersuchen, verschiedenartige gelöste organische Substanzen umzusetzen. Dabei wird er mit stabilen Isotopen markierte Kohlenstoffverbindungen einsetzen, um deren Werdegang zu verfolgen, und in genetischen Studien analysieren, welche Mikroben wann aktiv sind. „Kältere Temperaturen könnten zu höheren Kohlenstoffgehalten führen“, erklärt Gomez-Saez. Er will unter anderem feststellen, welchen Einfluss die Temperatur auf die mikrobielle Aktivität hat und ob bestimmte Formen gelöster organischer Substanzen für Mikroben verlockender sind als andere.
„Der für die nächsten Jahrzehnte prognostizierte Temperaturanstieg wird allen Lebewesen auf der Erde andere Bedingungen auferlegen. Die Antarktis könnte ein sehr empfindliches und wertvolles Frühwarnsystem für das Verständnis der globalen Erwärmung sein.“
Gonzalo Gomez-Saez
Aus welchen Molekülen die gelöste organische Masse in seinen Proben zusammengesetzt ist, woher diese kommen und wie sie umgesetzt werden, untersucht Gomez-Saez in Kooperation mit Forschungsgruppen am GeoBio-Zentrum der LMU, am Max-Planck-Institut in Bremen und an der Universität Oldenburg: Dort steht eines der leistungsstärksten Massenspektrometer Deutschlands, mit dem die Masse Tausender Moleküle gleichzeitig mit höchster Präzision ermittelt werden kann.
Gomez-Saez hofft, dass seine Ergebnisse zu einem besseren Verständnis der Auswirkungen des Klimawandels auf die Ökosysteme der Ozeane beitragen. „Der für die nächsten Jahrzehnte prognostizierte Temperaturanstieg wird allen Lebewesen auf der Erde andere Bedingungen auferlegen. Die Antarktis könnte ein sehr empfindliches und wertvolles Frühwarnsystem für das Verständnis der globalen Erwärmung sein“, sagt Gomez-Saez, der mit seiner Forschungsgruppe auch einen weiteren Effekt des Klimawandels im Ozean erforscht, der vor allem die Mittleren Breiten betrifft: Die Vergrößerung von anoxischen Zonen im Meer, Gebiete, in denen Sauerstoffmangel herrscht. Ähnlich wie im Fall des Austauschs von CO2 zwischen Meer und Atmosphäre spielt auch hier die Schichtung der Wassermassen eine Rolle, da sie die Wasserzirkulation und damit die Belüftung verhindern kann. Neue Messdaten zeigen, dass der Südliche Ozean im natürlichen Kreislauf vermutlich mehr CO2 freisetzt, als bisher angenommen wurde. Wieviel CO2 aber wirklich aus dem Ozean kommt, und ob das durch den Klimawandel beeinflusst wird, sei derzeit schwer zu sagen, meint Haumann. Diese Unsicherheiten hängen auch damit zusammen, dass Klimamodelle derzeit Schwierigkeiten haben, das System im Südlichen Ozean richtig abzubilden – auch, weil es nicht genügend Messdaten aus dieser Region gibt.
Die Antarktis als Frühwarnsystem für den Klimawandel
„Die Antarktis ist eine sehr spezielle Gegend, und viele der globalen Modelle wurden mit Daten aus anderen Gegenden der Welt entwickelt“, sagt Haumann. Mit einem neuen Projekt, für das er gemeinsam mit dem Alfred-Wegener-Institut und der LMU einen Starting Grant des European Research Council (ERC) und eine Helmholtz Nachwuchsforschungsgruppe eingeworben hat, will der Klimaforscher neue Erkenntnisse gewinnen, um Klimamodelle in der Region zu verbessern. Ein Ziel des Projekts ist es, den Austausch zwischen Oberflächen- und tiefem Wasser im Südlichen Ozean besser zu verstehen und seine Auswirkung auf globale Klimaveränderungen zu bewerten.
Zu seinen wichtigsten Datenlieferanten gehören dabei sogenannte Argo-Floats: Rund 3.500 dieser automatisierten Treibbojen bewegen sich aktuell mit der Strömung durch die Ozeane, sinken alle zehn Tage bis in 2.000 Meter Tiefe und steigen wieder auf. Dabei messen sie Temperatur, Salzgehalt und Druck. Es können auch weitere Sensoren montiert werden, etwa um den pH-Wert und den Nitratgehalt zu bestimmen. „Diese Daten sind sehr hilfreich, weil die Floats auch unter dem Eis überleben und Messdaten sammeln. Im Frühling ist es immer ganz spannend, ob sie wieder zurückkommen.“
Ein Messgerät, das in der Ozeanographie schon lange und immer wieder einsetzt wird, ist außerdem die sogenannte CTD-Rosette: Ein zylinderförmiges Metallgestell, das die Forschenden mit zahlreichen Sensoren bestücken. Zusätzlich werden rund um das Gestell Flaschen eingehängt, die in verschiedenen Tiefen Wasserproben sammeln – eine Art Hightech-Flaschenpost. Das Alfred-Wegener-Institut erhebt so bereits seit vielen Jahrzehnten wichtige Messreihen im Südlichen Ozean, die Haumann und seinem Team helfen den langfristigen Klimawandel und die damit verbundenen Veränderungen im Wärme-, Kohlenstoff-, und Wasserkreislauf der Region besser zu verstehen.
„Vielen ist möglicherweise gar nicht bewusst, welche riesigen Mengen an menschengemachtem CO2 und Wärme der Südliche Ozean speichert.“
Alexander Haumann
Aktuelle Ergebnisse von Haumann betreffen den dramatischen Schwund des Meereises, der 2023 neue Rekordwerte erreichte. Im Unterschied zur Arktis bildet sich fast das komplette Meereis in der Antarktis jedes Jahr neu, wenn die oberste Schicht des Ozeans im Winter gefriert. Das meiste Eis entsteht in den Küstenregionen des Rossmeers und des Wedellmeers, man nennt sie auch „Eisfabriken der Antarktis“. Bis zum Jahr 2015 haben sich diese Eisflächen zur Überraschung vieler Wissenschaftler sogar ausgedehnt. „Ursache waren vermutlich stärkere Winde, durch die das Meereis aus den Eisfabriken weiter hinausgetragen wurde. Dadurch bildete sich eine offene Ozeanfläche, die dann wieder neu gefrieren konnte“, erklärt Haumann. „Aber ab 2015 ist das System plötzlich gekippt.“ Innerhalb von zwei Jahren verschwanden damals etwa vier Millionen Quadratkilometer Eis – ein Trend, der sich nach einer kurzen Erholung bis heute fortsetzt.
„Die große Frage ist, ob das ein natürlicher Prozess ist oder ob man es als Signal des Klimawandels werten muss“, sagt Haumann. Nach seinen Ergebnissen kommen verschiedene Dinge zusammen: Zum einen gebe es natürliche dekadische Schwankungen des Salzgehalts, der im Südlichen Ozean die Stabilität der Schichtung des Wassers bestimmt. In den Polargebieten liegt kaltes Wasser über wärmerem. Eigentlich käme es zur Vermischung, weil kaltes Wasser dichter ist als warmes und absinkt. „Das passiert aber nicht, weil das Wasser oben in der Regel weniger salzig ist als unten“, so Haumann. Ändert sich diese Verteilung, kann die Schichtung instabil werden und mehr Wärme nach oben kommen, sodass mehr Eis schmilzt. Frühe Satellitenaufzeichnungen aus den 1970er-Jahren zeigen, dass es auch damals zu einem Schwund des Meereises gekommen ist, den der Klimaforscher mit diesem Effekt erklärt.
Kipppunkte gab es auch in der Vergangenheit
Das Unheil heute kommt allerdings aus der Tiefe: Im Vergleich zu den 1970er-Jahren wird jetzt mit dem tieferen Wasser deutlich mehr Wärme nach oben getragen. „Wir sehen, dass sich das Wasser in 150 Metern Tiefe sehr stark erwärmt hat“, erklärt Haumann. „Wenn die Schichtung instabiler wird, weil der Salzgehalt steigt – und das ist, was gerade passiert – dann kommt dieses warme Wasser leichter nach oben.“ Als Teil der globalen Umwälzzirkulation – einem gigantischen Wasser-Förderband, das Atlantik, Pazifik sowie den Indischen Ozean mit dem Südlichen Ozean verbindet – strömt Wasser aus den Tropen und Subtropen gen Südpol. Wissenschaftler erwarten, dass so aufgrund der Klimaerwärmung immer mehr Wärme in Richtung der Antarktis transportiert wird.
Ozeanographen sehen seit Jahren, dass die Gletscher, die viel tiefer ins Wasser reichen, von unten abschmelzen. „Aber das Meereis an der Oberfläche war lange durch die geringen Salzgehalte in den oberen 100 Metern abgeschirmt“, sagt Haumann. Nun aber werden die Folgen der Erwärmung auch hier sichtbar, und Haumann hält es für möglich, dass durch die Kombination aus Klimaerwärmung und dekadischen Schwankungen ein Kipppunkt erreicht wird. Eine dauerhafte Verkleinerung der Meereisflächen hätte folgen für zahlreiche Organismen, die auf diesen Lebensraum angewiesen sind. Zudem könnte durch weniger Meereis mehr Wärme in den Ozean gelangen, was die Eisbildung weiter erschwert und die Ozeanzirkulation stört – ein sich selbst verstärkender Kreislauf. „Es gibt Indikatoren, die auf ein Umkippen des Systems hindeuten“, sagt Haumann. Allerdings sei noch unbekannt, ob es ein natürlicher oder Klimawandel-bedingter Kipppunkt sei, denn auch in der Vergangenheit gab es vermutlich schon Kipppunkte, etwa im Zusammenhang mit den Eiszeiten. Ob sich diese Effekte auch wieder umkehren können, ist noch unklar. Eis und Ozean beeinflussen sich gegenseitig und viele Rückkoppelungseffekte sind noch nicht gut verstanden. Sicher ist, dass die polaren Regionen besonders anfällig für den Klimawandel sind. Dessen Auswirkungen auf die Antarktis besser zu verstehen, ist essenziell und erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise. Mit ihrer Forschung zur Ozeandynamik, den Eigenschaften des Wassers und den biologischen Prozessen beleuchten die LMU-Forscher Haumann und Gomez-Saez unterschiedliche Facetten dieses komplexen Systems und tragen dazu bei, die Veränderungen zu verstehen, die die Zukunft des Planeten prägen werden. „Man denkt immer, das ist so weit weg“, sagt Haumann. „Natürlich beeinflussen Veränderungen im Südlichen Ozean nicht unser Wetter von morgen, aber langfristig gesehen ist der Einfluss auf unser lokales Klima und die Menschen in Europa massiv.“
Monika Gödde
Dr. Gonzalo Gomez-Saez leitet eine Emmy Noether-Gruppe am LMU-Department für Geo- und Umweltwissenschaften, Paläontologie und Geobiologie. Nach seinem Studium in Spanien, Schweden und Finnland wurde er an der Universität Bremen promoviert. Gomez-Saez arbeitete in Bremen als Postdoktorand am MARUM Zentrum für Marine Umweltwissenschaften und am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie, außerdem am Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg und am Alfred-Wegener-Institut.
Prof. Dr. Alexander Haumann vertritt derzeit die Professur für Physische Geographie mit Schwerpunkt Ozeanographie am Department für Geographie der LMU. Er studierte Geowissenschaften mit Schwerpunkt Geographie an der Universität Basel und Meteorologie, Physikalische Ozeanographie und Klima an der Universität Utrecht. Promoviert wurde er an der ETH Zürich, und forschte anschließend vier Jahre lang an der Princeton University und dem British Antarctic Survey. Seit 2023 ist er Forschungsgruppenleiter am Alfred-Wegener-Institut und der LMU.
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