Alte Gewissheiten schwinden, das Neue ist noch diffus im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert – und das Leben in vielen Klöstern hat sich weit, sehr weit von den ursprünglichen mönchischen Idealen entfernt. In dieser Zeit des Umbruchs und der Herausforderungen wird der Benediktinermönch Johannes Dederoth 1433 zum Abt im niedersächsischen Kloster Bursfelde gewählt. Sein Programm: Erneuerung. Sein Ziel: Rückkehr zu den Ursprüngen.
„Monos“ waren die ersten Mönche im 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert gewesen – „allein“, Eremiten in der ägyptischen und syrischen Wüste, die asketisch und weltabgewandt ihr Leben in Kontemplation ausschließlich Gott gewidmet hatten. Doch vielfach verschwammen die strengen Klosterregeln, wie sie später Benedikt von Nursia formuliert hatte, so dass schon im Hochmittelalter Reformbewegungen wie etwa die Cluniazenser solchen „ur“-mönchischen Idealen nachstrebten.
„Bei vielen klösterlichen Reformbewegungen im Mittelalter ging es nicht darum, neu zu sein, sondern im Gegenteil ‚ursprünglicher‘ und das heißt näher an den Vorbildern der Bibel oder der jeweiligen Kloster- beziehungsweise Ordensregel“, sagt Julia Burkhardt, Lehrstuhlinhaberin für Mittelalterliche Geschichte an der LMU. Die Mediävistin interessiert sich besonders für innovative Formen der Gemeinschaftsbildung und Weltdeutung in mittelalterlichen Klöstern.
Kern der Reformen Dederoths und seiner Unterstützer war die „Neugestaltung des Klosterlebens“. Ein Ansatz, der offenbar den Nerv der Zeit traf, denn binnen weniger Jahre schlossen sich um das Kloster Bursfelde zahlreiche Klöster mit denselben Zielen zu einer Kongregation zusammen. Dabei, so Burkhardt, „ging es inhaltlich zunächst darum, die Benediktsregel möglichst wortgetreu zu beachten und umzusetzen. Kernaufgabe des klösterlichen Lebens war der Gottesdienst, dessen Ablauf seit Mitte des 15. Jahrhunderts in genauen Vorschriften geregelt war.“ Der eigentliche Gottesdienst wird in der Folge von Dederoths Reformen verkürzt, „um die individuelle Hingabe, die devotio zu steigern“. Ein entscheidendes Element dabei ist die tägliche Meditation. Die Mönche sollten die „Befähigung zur Introspektion“ erlangen und eine „innere Wachsamkeit“ entwickeln, sagt Burkhardt. Denn die Rückkehr zu alter Regelstrenge ist durch Überwachen und Strafen allein nicht zu bewerkstelligen.
Kontinuierliche Bereitschaft zu innerer Wachsamkeit
Ziel religiöser Gemeinschaften im Mittelalter ist, in der Gemeinschaft ein Leben zu Gott zu finden. Das Leben im Kloster fordert von den Mönchen und Nonnen zweierlei: sich einfügen, also den Regeln unterwerfen, und sich zugleich aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligen, es also gestalten. Dazu gehörte die Befolgung von Regeln, die den Alltag strukturieren, etwa die Bestimmungen für die gemeinsamen Mahlzeiten, für Ruhe- und Arbeitszeiten und die Erlaubnis, das Kloster zu verlassen. Es gelten Kleidervorschriften, Blickverbote und Schweigegebote. Wichtig sind lebenspraktische Themen wie die Frage, ob die Mönche auf Strohsäcken oder Federbetten schlafen dürfen. Wichtig sind auch gemeinschaftliche Rituale wie die Kapitelsitzungen – eine Art regelmäßiger „Meetings“, bei denen überprüft wird, ob sich die Mönche und Nonnen auch an die Regeln halten.
Doch wie lässt sich die Einhaltung der Regeln wirksam kontrollieren? Genau dazu arbeiten Julia Burkhardt und ihre Kollegin, die Frühneuzeithistorikerin Iryna Klymenko, mit ihrem Team am Forschungsprojekt zu Vigilanz in den Klöstern der Bursfelder Kongregation im Rahmen des Sonderforschungsbereiches (SFB) 1369 „Vigilanzkulturen. Transformationen – Räume – Techniken“.
Um gemeinschaftliche Standards durchzusetzen, setzte die Bursfelder Kongregation einerseits auf die individuelle Wachsamkeit der einzelnen Mönche und Nonnen und andererseits auf institutionelle Kontrolle. Diese Kontrolle erfolgt auf mehreren Ebenen: intern durch verschiedene Stufen der Klosterhierarchie und vor allem durch sogenannte „Observatoren“, die „im Kloster umhergehen und Nachlässigkeiten sowie Sünden beobachten sollten“, so Burkhardt, und extern durch die gemeinsamen Treffen im Rahmen des Generalkapitels. Regelmäßig „visitierten“ Äbte zudem ihre Nachbarklöster, um in Einzel- und Gruppengesprächen die Einhaltung der Regeln zu überwachen.
Entscheidend aber war die Einstellung der Mönche und Nonnen selbst. Neudeutsch würde man das als Achtsamkeit bezeichnen. Es gehe um eine „fürsorgliche Verantwortung für das eigene (seelische und körperliche) Wohl“, kombiniert mit einer „kontinuierlichen Bereitschaft zu innerer Wachsamkeit“, schreiben Burkhardt und Klymenko. „Zentrale Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Beichte zu, die sowohl der Selbstdisziplinierung als auch der Normenkontrolle gegenüber anderen diente.“
Ein erfolgreiches Konzept für mehr als 90 Klöster
Um zu den Wurzeln benediktinischen Lebens zurückzukehren, entwickelten die Klöster der Bursfelder Kongregation ein erstaunlich modern anmutendes Konstrukt aus institutioneller Überwachung, gegenseitiger Checks and Balances der in der Kongregation verbundenen Klöster und Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Ich. Eine tiefgreifende Reform, die erstaunlich schnell und umfassend Erfolg hatte. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts gehörten über 90 Klöster zur Bursfelder Kongregation.
Zurück zu den – mönchischen – Wurzeln, das mag sich reaktionär, rückwärtsgewandt anhören, ist es aber nicht, im Gegenteil: „Klöster können als Labore für Innovation betrachtet werden“, erklärt Julia Burkhardt. Sie waren nicht nur geistliche, sondern auch intellektuelle Zentren der Zeit, betont Burkhardt und räumt gleich mit dem Vorteil über das Mittelalter als bleierne und statische Epoche auf: „Die Zeit, die wir als Mittelalter bezeichnen, war eine hochdynamische Zeit, die einen großen geographischen Raum, einen langen Zeitraum und vielfältige gesellschaftliche Entwicklungen umfasste – sie war natürlich keine abgeschlossene Einheit. Wir können sie nicht einfach als eine Vorstufe zur Moderne betrachten.“
„Bei vielen klösterlichen Reformbewegungen ging es nicht darum, neu zu sein, sondern im Gegenteil ‚ursprünglicher‘.“
Innovationen aber, die eine ganze Reihe von sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen betreffen, setzen sich nicht einfach von selbst durch. „Sie verlaufen nicht als ein linearer Prozess von null nach eins sondern durchlaufen mehrere Stufen, was Zeit braucht“, betont Julia Burkhardt. „Das erlaubt auch, ihr Scheitern mitzudenken.“ Am Anfang steht vielleicht eine Neuerung oder auch eine Erfindung. Sie muss aber umgesetzt und verbreitet werden.
Die Ordnung der Dinge: Wissensspeicher und was sie verraten
Damit sich klösterliche Innovationen durchsetzen konnten, musste das dafür nötige Wissen sowie die damit verbundenen Ideen bewahrt und gespeichert werden: in Büchern, Briefen und Dokumenten, die in Klosterbibliotheken verfasst, abgeschrieben und aufbewahrt wurden. Dabei handelte es sich keinesfalls nur um Abschriften bedeutender theologischer Werke oder um Verwaltungsdokumente.
An kleinen, lebensnahen Episoden, sogenannten „Exempla“, wurden auch Werte veranschaulicht, die wiederum in Exempelsammlungen ein moralisches Weltbild vermittelten. Es war „eine Welt voller Geschichten, die stets auch eine Vision von einer besseren Welt vermittelte“, so Burkhardt. So entstanden „innovative Gemeinschaftsentwürfe, die mündlich oder schriftlich weitergegeben wurden“. In dem Projekt „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften machen Julia Burkhardt und ihr Team diese Texte in einer kritischen Edition mit deutscher Übersetzung zugänglich, zum Beispiel das sogenannte Bienenbuch des Dominikaners Thomas von Cantimpré ein mittelalterlicher „Bestseller“, der zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert über einhundert Mal abgeschrieben und in verschiedene Volkssprachen übersetzt wurde. Die Menschen sollten „von Bienen lernen“ können, so Thomas von Cantimprés Grundidee, aus der er in zahlreichen abwechslungsreichen Erzählungen aus dem Lebensalltag des 13. Jahrhunderts die Vision einer idealen Gemeinschaft entwickelt.
Aber nicht nur die mittelalterlichen Handschriften sind eine ganz besondere Quelle, sondern auch die Bibliothekskataloge selbst, zeigen sie doch, welche Bücher kopiert, ausgeliehen und weitergegeben wurden. Und sie verraten noch mehr. Sie machen deutlich, unter welchen Schlagworten Bücher erfasst, wo sie einsortiert und damit in das bestehende Wissenssystem integriert wurden. Besonders spannend findet die Mittelalterhistorikerin zudem die Randnotizen in den Handschriften. Sie geben häufig Aufschluss darüber, wie die Bücher im Mittelalter genutzt, wahrgenommen und bewertet wurden.
So etablierten sich allmählich neue Ideen im alten System. Damit sich solche Neuerungen aber nachhaltig behaupten konnten, brauchte es ihre Bestätigung in den Gemeinschaften, zum Beispiel in regelmäßigen Versammlungen wie jenen der Bursfelder Kongregation. Wichtig war auch eine ausgeprägte Diskussionskultur: Ehrende Worte sind erwünscht, schmähende verpönt. Benötigt werden, drittens, zudem Dissens- und Konsensideale. Das Ziel sind wie so oft Beschlüsse, hinter denen viele stehen können und die trotzdem auch Raum für Dissens lassen. Hört sich modern an? Ist bald 600 Jahre alt.
Maximilian Burkhart
Prof. Dr. Julia Burkhardt ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung des Spätmittelalters an der LMU. Julia Burkhardt, Jahrgang 1984, studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte an den Universitäten Heidelberg und Warschau. Nach ihrer Promotion an der Universität Heidelberg war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Habilitation in Mittelalterlicher Geschichte an der Universität Heidelberg, danach Lehrstuhlvertretung an der Universität Bonn, bevor sie 2020 an die LMU berufen wurde.
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