Antworten auf den traurigen Smiley
Was hilft den Schulen aus der Misere? Ein Gespräch über veraltete Strukturen – und Lehrkräfte, die etwas verändern wollen

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Zeit für neue Konzepte: Klassenraum einer Modellschule in Heidelberg. Foto Uwe Anspach / Picture Alliance / dpa

Vor gut 20 Jahren haben Ergebnisse der PISA-Studien einen Schock in Deutschland ausgelöst. Im vergangenen Jahr sorgten sie neuerlich für Alarmstimmung. In Mathematik etwa, so der Befund, liegt der Leistungsstand der 15-Jährigen gegenüber dem vier Jahre zuvor um gut ein Jahr zurück. Und das ist nur das prominenteste Beispiel unter den Untersuchungen, die allesamt den deutschen Schulen ein nicht eben schmeichelhaftes Zeugnis ausstellen. Was klappt da nicht?

Scharenberg: Die Befunde der aktuellen PISA-Studie von 2022, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurden, sind nicht allzu überraschend. Schon in PISA 2018 zeigte sich ein Abwärtstrend, der sich bis heute fortsetzt.

Wößmann: Bei allen Untersuchungen wie IGLU, TIMSS oder PISA sieht man im längerfristigen Trend so etwas wie einen traurigen Smiley. Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 haben sich die Leistungen in Deutschland stetig deutlich verbessert – um bis zu 70 bis 90 Prozent eines Schuljahres. Seit 2011/12 kehrt sich dieser Trend um. Das sind nicht gerade Peanuts. Allein in den vergangenen vier Jahren betrug der Rückgang in Mathematik 25 Pisa-Punkte. Damit sind wir unter dem Niveau von 2000.

Wie sollte die Gesellschaft darauf reagieren?

Wößmann: Eigentlich bräuchten wir jetzt einen neuen PISA-Schock, damit das deutsche Bildungssystem wieder aufholt. Es geht ja um die so wichtigen Basiskompetenzen Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen und Textverständnis, auf denen alles andere aufsetzt. Und aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutet es einen immensen negativen Wohlstands-Effekt. Wir haben das berechnet: Wäre der Rückgang an PISA-Punkten dauerhaft, ginge es um einen Verlust von 14 Billionen Euro am Brutto-Inlands-Produkt. Eines kann man nicht oft genug betonen: Das, was die Menschen mitbringen, ist viel wichtiger als der Maschinenpark im Land. Die Bildungsleistungen der Bevölkerung sind der wichtigste Faktor, der langfristige volkswirtschaftliche Entwicklungsprozesse erklären kann. 

Noch im technologischen Kontext des Industriezeitalters

Hauck-Thum: Wirtschaftliche, technische und rechtliche Aspekte in den Blick zu nehmen, ist das eine. Aber man darf auch die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen nicht vergessen, die gerade in den letzten 20 Jahren mit einer fortschreitenden Digitalisierung vonstatten gegangen sind. Das geht weit über Fragen der Ausstattung hinaus, wir brauchen veränderte Lehr- und Lernprozesse, wir brauchen eine neue Lernkultur, die es Kindern mit sehr unterschiedlichen Lernausgangslagen ermöglicht, die Kompetenzen zu erwerben, die sie benötigen, um mit dieser neuen Komplexität umzugehen. Die Heterogenität wächst, die Angebote aber sind nicht angepasst an die veränderten medial- kommunikativen Praktiken von Kindern, an ihre Vorerfahrungen. Man versucht, den technologischen Kontext und die Strukturen des Industriezeitalters beizubehalten, wie wir sie seit 100 Jahren kennen.

Es bräuchte einen neuen PISA-Schock, sagen Sie. Was soll der bewirken?

Wößmann: Ich habe das Gefühl, dass nach kurzer Empörung wieder die Phase der Sonntagsreden einsetzt. Das Thema hat in Politik und Gesellschaft nicht die hohe Priorität, die es verdient. Das war beim PISA-Schock anders, da haben sich viele aufgemacht, das Kerngeschäft der Schulen, Basiskompetenzen zu vermitteln, nicht weiter zu vernachlässigen. Das sehe ich jetzt nicht. Der Politik ist es offenbar wichtiger, dass es keine schlechte Stimmung gibt, als dass die Kinder wirklich auf ihr Leben vorbereitet werden. Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Art, wie wir Schule machen, überhaupt nicht mehr in die Zeit passt, aber bei den Basiskompetenzen sollten wir nichts abknapsen.

Hauck-Thum: Das will ja auch niemand. Es geht nicht darum, beispielsweise die Bedeutung der Lesekompetenz im Umgang mit analogen Texten zu schmälern, sondern Lesekompetenz auf multimodale Texte hin zu erweitern und dafür die Lehr- und Lernsettings entsprechend weiter zu entwickeln.

Ein Beispiel?

Hauck-Thum: Wir haben gerade eine Studie zur digitalen Chancengerechtigkeit ausgewertet. Sie hat gezeigt, dass Lesemotivation von der Passung abhängt. Zum Beispiel bekamen sehr schwach lesende Mädchen am ehesten über die Auseinandersetzung mit analogen Gegenständen wie Handpuppen einen Zugang zum Text. Sie haben damit Szenen nachgespielt und konnten dadurch auch zum Lesen motiviert werden. Mittelgut lesende Jungs dagegen konnte man in diesem analogen Setting weniger zum Lesen motivieren, sondern eher mit der Aufgabe, die Hauptfigur zu interviewen und ein Video am Tablet zu drehen. 

Wir pflegen an unseren Kooperationsschulen zudem eine Webseite mit Buchempfehlungen von Kindern für Kinder (www.le-o-mat.de). Sie können durch das Gestalten der Seite aktiv an der digitalen Welt teilnehmen und verbessern gleichzeitig ihre Basiskompetenzen im Umgang mit den Büchern. Die Bereiche werden häufig gegeneinander ausgespielt, müssen jedoch gleichermaßen gefördert werden.  Die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler hat sich geändert, die Heterogenität unter den Kindern wächst beständig. Daran gilt es anzuknüpfen.

Scharenberg: Heterogen war die Schülerschaft schon immer, zum Beispiel mit Blick auf die unterschiedlichen Lernausgangslagen und das Vorwissen der Kinder. Aber es hat sich auch einiges verändert. Die Aufgabe der Integration stellt sich noch einmal anders mit Kindern mit Fluchterfahrungen aus Syrien oder der Ukraine. Zu der kulturellen kommt die soziale Heterogenität. Zudem hat sich das Schulsystem in den letzten 15 Jahren verändert. Stichwort Inklusion: Auf einmal lernen Kinder und Jugendliche mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam in inklusiven Settings in den Regelschulen, während sie vorher überwiegend separiert wurden. Andererseits gibt es nach wie vor Förderschulen, was wiederum zu neuen Ungleichheiten führt. Diese Herausforderungen setzen sich letztendlich von der gegliederten Schulstruktur auf der Ebene des Schulsystems bis hin in die einzelne Klasse fort. Am Ende kommt es darauf an, wie die Lehrkraft damit umgeht. Und Lehrkräfte haben nicht nur die Aufgabe der reinen Wissensvermittlung, sondern müssen die Schülerinnen und Schüler auch auf neue gesellschaftliche Herausforderungen vorbereiten, wie zum Beispiel den persönlichen Umgang mit und die Akzeptanz von Vielfalt oder Themen wie Klimawandel und nachhaltige Entwicklung.

Wößmann: Da stimme ich Ihnen zu. Aber ich frage mich manchmal, ob das so grundlegend anders ist als vor 20 oder 50 Jahren. Da hatten wir auch Umbruchsituationen. Womöglich sind die Umwälzungen heute grundlegender, deutlich schneller und haben mit den neuen Medien vor allem eine andere Dimension.

Hauck-Thum: Man muss sich auch überlegen, was Leistung heute eigentlich bedeutet. Es ist unbestritten, dass wir eine leistungsfähige Gesellschaft brauchen. Aber die Frage ist doch, worauf konditionieren wir hier Kinder? Auf sechs Notenstufen? Was bedeutet eine Drei in einer Probe überhaupt? Das ist doch eine komische Art der Rückmeldung. Am Ende der vierten Klasse müssen Kinder Proben über Proben schreiben. Natürlich macht das etwas mit dem Unterricht. Prüfungskultur bedingt Lernkultur und umgekehrt. Alle Kinder erhalten an den Schulen vielfältige Lerngelegenheiten. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder diese Gelegenheiten für ihren Bildungserfolg auch nutzen, sehr, sehr unterschiedlich, abhängig von ihren individuellen Sozialisationserfahrungen und häuslichen Unterstützungsstrukturen.  

„Wir haben in der Gesellschaft eine feste Vorstellung von Schule und Unterricht. Jeder hat Schule in einer bestimmten Form erlebt. Mit diesem Filter ist es sehr schwierig, Prozesse des Lehrens, Lernens und Prüfens zu verändern.“

Uta Hauck-Thum

Wie könnten Kinder denn gezielter gefördert werden?

Wößmann: Wir müssen hier vor allem auch an die frühkindliche Förderung denken. Gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten wäre sie besonders wichtig. Wieviel man damit erreichten kann, das belegt extrem gute Forschung zuhauf. Und wenn man diesen Eltern nur dabei hilft, einen Kita-Platz für ihre kleinen Kinder zu bekommen.

Wie lässt sich die Sprachförderung besser aufsetzen?

Wößmann: In einigen Bundesländern muss jedes Kind mit viereinhalb einen Sprachtest machen, egal ob es in der Kita ist oder nicht. In Hamburg etwa sind die Kinder, die den Test nicht schaffen, schulpflichtig und müssen Sprachkurse machen, damit sie vorbereitet sind, wenn sie mit sechs eingeschult werden. Wie sinnvoll das ist, sieht man schon daran, dass Hamburg das einzige Land ist, das in den letzten zehn Jahren bei PISA nicht nach unten gerauscht ist.

Hauck-Thum: Die Testung ist auch in Bayern im Gespräch, aber nur die Testung. Was dann mit den Ergebnissen passiert, ist noch völlig offen. Das Testen macht aber kein Kind schlauer, da braucht man dann auch kompetente Leute, die die Kinder bereits in der Kita fördern. Wer macht das? Die Grundschullehrkräfte? Die fehlen ohnehin schon.

Das System produziere viele Bildungsverlierer, lautet eine weitere Kritik.

Wößmann: Ja, aber man kann oder könnte eine Menge machen. Ein Beispiel: Wir haben ein großes Forschungsprojekt zu einem Mentoring-Programm in Schulen in den benachteiligten Vierteln Münchens gemacht, bei dem Studierende ehrenamtlich benachteiligten Jugendlichen zur Seite gestanden haben. Die Jugendlichen sind 14, 15, da haben sie keinen Bock mehr auf Schule. In dem Mentoring-Programm treffen sich die Studenten und die Schüler alle zwei Wochen, 1:1, da wird eine persönliche Beziehung aufgebaut. Es geht darum, den Übergang auf den Arbeitsmarkt oder auf eine weiterführende Schule zu erleichtern. Und wir sehen: Bei den wirklich Benachteiligten, die aus den Brennpunktbereichen kommen, hat das riesige Effekte. Ein Jahr später sind die in der Schule besser, ihre sozialen Kompetenzen sind größer, ihre Resilienz. Überhaupt, dass sie über Zukunft nachgedacht haben: Drei Jahre nach dem Mentoring hatten doppelt so viele von ihnen wie in der Kontrollgruppe eine Ausbildung angefangen.

Welchen Freiraum haben denn Lehrkräfte heute? Wo können sie tatsächlich ansetzen?

Hauck-Thum:
Ich begleite derzeit 22 Grundschulen im Rahmen des Schulentwicklungsprojekts CoTransform Freising. Dort versuchen wir, übergreifende Kooperationen aller Akteurinnen und Akteure zu unterstützen. Das bedeutet: Jeweils bis zu fünf Schulen schließen sich zu einer Schulfamilie zusammen. 

Das Modell einer funktionierenden Schulfamilie

Wer gehört zu dieser Schulfamilie?

Hauck-Thum: Die Schulleiterinnen, die Lehrkräfte, die Kinder, die Eltern, aber auch Schulträger und Schulaufsicht sind in diese Gemeinschaften mit einbezogen. Regelmäßige Austauschtreffen sollen dazu beitragen, dass die Akteurinnen und Akteure die unterschiedlichen Bedarfe der Ebenen kennen lernen und verstehen. Das ist wichtig. Denn wenn der Schulträger zum Beispiel nicht weiß, wie in der Klasse gearbeitet wird, kauft er Whiteboards und irgendwelche Standrechner, die dort im Unterricht keine Rolle spielen. Wir versuchen hier auch Schritt für Schritt, neue Formate des Prüfens zu etablieren. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Schulaufsicht. Zudem haben wir gemeinsam mit den Lehrkräften ein Lesekonzept entwickelt, das auch Lernstandsmonitoring (levumi.de) umfasst. Zudem fokussieren wir auf den Bereich des Demokratischen Lernens, um Kindern frühzeitig Partizipation und Teilhabe zu ermöglichen – auch durch die Auswahl von Themen und bevorzugter Medien. Die Lehrkräfte bieten beispielsweise in einem festen Unterrichtsslot Projekte an, aus denen die Kinder auswählen können – klassen- und jahrgangsübergreifend.

Wößmann: Die große Frage ist aber, wie lange es braucht, um so etwas in die Fläche zu bringen. Es gibt ja schon unglaublich viele tolle Dinge, im Kleinen teilweise schon seit Jahrzehnten. Aber all das hängt immer am Engagement einzelner Akteure im Kollegium und der Schulleitung. Ob das wirklich in die Fläche kommt, ist am Ende eine politische Frage oder zumindest eine Frage der Steuerung. Da können Lernstandserhebungen helfen. Wo stehen wir jeweils, mit welchen Konzepten kommen wir voran? Und wenn das Ziel einigermaßen klar ist und wir auch eine gewisse Transparenz haben, wie gut wir das erreichen, können wir den Schulen viel mehr Autonomie geben.

Was macht ein gutes Digitalkonzept aus? Das soll ein Pilotprojekt zeigen. Unterricht in einer siebten Gymnasialklasse. Foto: Matthias Balk / Picture Alliance / dpa

Lehrerinnen und Lehrer sollen sich um die Inklusion kümmern, um die Digitalisierung, sie sollen mit sozialer Spreizung und ihrer heterogenen Klientel umgehen. Können sie überhaupt all diese Herausforderungen bewältigen? Oder bräuchte es viel mehr Sozialarbeiter und Psychologinnen an den Schulen?

Scharenberg: Zuallererst bräuchte es eine größere gesellschaftliche Anerkennung des Lehrkräfteberufs. Natürlich brauchen Lehrkräfte außerdem Kompetenzen zur Diagnostik und Förderung unterschiedlichster Schülergruppen, die sich ja auch sehr verändert haben. Und genau das ist unsere Aufgabe in der Lehrkräftebildung und eine Chance, angehende Lehrkräfte auf den Umgang mit Heterogenität intensiv vorzubereiten. Ich denke dabei nicht nur an leistungsbezogene Zielkriterien von Schule und Unterricht, sondern es geht auch darum, soziale Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern und den Zusammenhalt in Schulklassen zu fördern. 

„Zuallererst bräuchte es eine größere gesellschaftliche Anerkennung des Lehrkräfteberufs.“

Katja Scharenberg

Mit solchen Herausforderungen umzugehen, dafür soll es jetzt das Startchancen-Programm geben. Was kann das bewirken?

Wößmann: Das Programm wird nicht der Game Changer sein. Aber der Ansatz ist absolut richtig. Das ist zum ersten Mal ein Programm, mit dem man gezielt auf die wirklich benachteiligten Schulen zugehen und sie finanziell fördern will. Das fehlte in Deutschland bislang weitgehend. Schaut man sich allerdings den ganzen politischen Prozess an, fürchte ich, dass das Programm in den meisten Bereichen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein wird. Offen gestanden ärgert es mich, dass es in den Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern vor allem um Verteilungsfragen geht und weniger darum, wie wir den Kindern und Jugendlichen am besten helfen.

Wie ließe sich das besser machen?

Wößmann: Dafür müsste man zunächst klar definieren, was eine ,herausfordernde Lage‘ bestimmt, das entscheidende Förderkriterium für die Schulen. Das könnte man noch relativ leicht zielgenau hinbekommen. Aber auch dann kann der Verteilungsprozess trotzdem reichlich bürokratisch sein. Wir kennen das vom Digitalpakt. Man muss von den Kindern und Jugendlichen aus denken. Was bringt denen das?

Hauck-Thum: Aber beim Digitalpakt lag es nicht nur an der an der Bürokratie, sondern schon auch daran, dass es manchen Schulen schwerfiel, Medienkonzepte zu entwickeln, weil sie sich vorher weniger damit auseinandergesetzt hatten. Das Geld aus dem Startchancen-Programm wird jetzt sicher kommen. Pro Startchancenschule wird es im Jahr bis zu 250.000 Euro ausmachen. Aber jetzt ist die Frage, was passiert mit dem Geld? Man kann es für ganz unterschiedliche Dinge nehmen. Man kann Toiletten umbauen, was sicherlich nicht unwichtig ist, damit Kinder sich wohlfühlen. Aber Schulen sollten auch unterstützt von der Wissenschaft überlegen, welche Konzepte sinnvoll sind, um die Chancen aller Kinder auf Bildungserfolg zu erhöhen. Partner von außen sollten fest in multiprofessionelle Teams eingebunden werden. Unser Konzept mit den Schulfamilien zielt genau darauf ab.

„Ob gute Ansätze in die Fläche kommen, ist am Ende eine politische Frage oder zumindest eine Frage der Steuerung.“

Ludger Wößmann

Dass Veränderungen wie beim Digitalpakt immer so lange brauchen, der Eindruck ist ja nicht neu.

Wößmann: Ein genuines Interesse daran, alles beim Alten zu lassen, würde ich mal nicht unterstellen. Aber natürlich ist jede Veränderung, die nicht alle aus vollem Herzen wollen, anstrengend. Und wenn dann noch verschiedene Leute Verschiedenes wollen, bleiben wir auch da sehr schnell auf der Stelle.

Hauck-Thum: Wir haben in der Gesellschaft eine feste Vorstellung von Schule und Unterricht. Jeder hat Schule in einer bestimmten Form erlebt. Mit diesem Filter ist es sehr schwierig, Prozesse des Lehrens, Lernens und Prüfens zu verändern. Auch angehende Lehrkräfte erleben im Studium vor allem im Rahmen der Praktika oft wenig neues. Nur aus der Theorie abgeleitete Strukturen umzusetzen ist für viele nach wie vor schwierig.

Wie wollen Sie für den Beruf werben?

Hauck-Thum: Ja, wie bringen wir Studierende dazu, zu Lehrkräften zu werden, die sich zutrauen, das Schulsystem zu verändern? Wir versuchen, den Studierenden bereits an der Universität vielfältige inspirierender Seminare anzubieten, damit sie konkrete Erfahrungen mit neuen Lehr- und und Lernsettings machen können. Darüber hinaus bedarf es dringend der administrativen Unterstützung an den Schulen. Wichtig wäre beispielsweise, die Stundenzahl von Lehrkräften zu senken anstatt sie zu heben, feste Kooperationsstunden einzuplanen, multiprofessionelle Teams stärker in den Blick zu nehmen, akteursübergreifende Austauschprozesse anzustoßen und Kooperationen mit außerschulischen Lernorten dauerhaft zu implementieren. Dadurch könnte sich die Arbeit als solche und auch das Bild einer Lehrkraft in der Gesellschaft verändern. In Folge kämen noch mehr junge Menschen in den Beruf, die kreativ sind und gemeinsam neue Wege gehen wollen. Nur mit offenen, transformationsbereiten, agilen, motivierten jungen Leuten lässt sich unser Bildungssystem neu gestalten. Mit Menschen, die nicht länger reproduzieren, was sie selbst als Schülerinnen und Schüler erlebt haben.

Moderation: Hubert Filser und Martin Thurau

Prof. Dr. Uta Hauck-Thum ist Professorin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der LMU. An der Universität Augsburg studierte sie das Lehramt an Grundschulen und war nach den Staatsexamina acht Jahre als Grund- und Mittelschullehrerin in München tätig. Uta Hauck-Thum war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der LMU, an dem sie nach der Promotion auch als Akademische Rätin arbeitete. Nach einem Ruf an die Pädagogische Hochschule Salzburg wurde sie 2018 an die LMU berufen.

Prof. Dr. Katja Scharenberg ist Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik, Erziehungs- und Sozialisationsforschung an der LMU. Katja Scharenberg studierte Soziologie an der Universität zu Köln und am University College London. Sie wurde in Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dortmund promoviert, wo sie sich auch habilitierte. Sie arbeitete als Senior Researcher an den Universitäten Basel und Bern und als Tenure-Track-Professorin für Inklusion und Heterogenität an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Dort hatte sie zuletzt die Professur für Bildungssoziologie inne, bevor sie 2023 an die LMU berufen wurde.

Prof. Dr. Ludger Wößmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insb. Bildungsökonomik an der LMU und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik am ifo Institut München. Wößmann studierte Volkswirtschaft an der Universität Marburg, der University of Kent at Canterbury, UK, und im Advanced Studies Program des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, wo er danach in der Forschungsgruppe „Humankapital und Wachstum“ arbeitete. Wößmann wurde an der Universität Kiel promoviert und habilitierte sich an der Technischen Universität München. Er ist außerdem Distinguished Visiting Fellow an der Hoover Institution, Stanford University, USA.

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1 Kommentar

  1. Frank Kameier

    Leider trifft es auch auf Hochschule und Hochschuldidaktik zu:
    „Wir haben in der Gesellschaft eine feste Vorstellung von Schule und Unterricht. Jeder hat Schule in einer bestimmten Form erlebt. Mit diesem Filter ist es sehr schwierig, Prozesse des Lehrens, Lernens und Prüfens zu verändern.“

    Modernisieren wir die Lehre an den Universitäten und Hochschulen nicht, wird sich auch in den orginären Schulen nichts verändern. Laborschule und Oberstufenkolleg feiern in Bielefeld 50-jähriges Bestehen – warum hat die akademische Welt nicht mehr geschaffen.

    Antworten

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