Eine Archäologie der Sinne
Flammenspektakel, Schattenkino, Hauskulte: Wie im Römischen Reich Macht in Szene gesetzt wurde

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Lichtzeremonie: Fresko aus dem Isis-Heiligtum in Pompeji. Ein kahlgeschorener Priester tritt mit zwei hohen Kandelabern in der Hand an eine Götterstatue heran. Heute ist das Fresko im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel zu sehen. Foto: Johannes Eber

Das erste Licht entzündet der Hausherr in einer bronzenen Lampe. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, die Hausbewohner sind im Dunkel des Hauses vor einer Nische im Atrium versammelt, auch die Sklaven. In einem Gefäß verbrennt der Hausherr Weihrauch und frische Feldfrüchte, versprengt in den aufsteigenden Rauch hinein Wein. Spritzer erreichen die Götterfiguren in der Nische, auch die Malerei unter der Vertiefung. Zwei große, gewundene Schlangen, die namenlosen Hausgeister, sind dort zu sehen, die sich die Früchte aus dem Feuer zu schnappen scheinen. In der Nische brennt nun vor den Götterstatuetten aus Bronze die Lampe mit heller Flamme, gespeist von Olivenöl. Die kleinen Kultfiguren – Götter und Schutzgeister der Familie – schimmern im Licht. Zwei tänzelnde Jünglinge, die Laren, werfen dramatische Schatten in die Nische des Hausaltars. Ihre bewegten Umrisse machen die Figuren lebendig, so als ob göttliche Wesen anwesend seien. „Morgens veranstaltete man in Hausschreinen ein kleines Spektakel“, sagt Ruth Bielfeldt. „Das war ein Licht- und Schattenkino, bei dem sich die Anwesenden der Gemeinschaft von Menschen und Göttern versicherten.“

Künstliches Licht spielte eine zentrale Rolle für die religiöse Praxis im römischen Haus, sagt die LMU-Archäologin. Allein in Pompeji haben Archäologen in 17 Hausschreinen eine künstliche Lichtquelle entdeckt, ein neues Sacrarium mit unversehrten Bronzelampen ist erst jüngst im April 2024 in Regio IX zu Tage gekommen. „Das Licht und der Duft von Weihrauch und Rosenöl führten zu einem kollektiven Erleben. Das Sinnliche hatte eine gemeinschaftsstärkende Rolle; alle erlebten dasselbe, gemeinsam beschworen sie den Schutz der Götter.“ Die „Inszenierung“ etwa durch Licht brauchte es dabei durchaus, um die Götter sozusagen zur Einkehr einzuladen. „Das Aufleuchten eines Schreines konnte dann so erlebt werden: Jetzt sind sie da.“

Licht schützt, Licht steht für das Feuer des Altars

Eine „Archäologie der Sinne“ nennt Bielfeldt selbst ihre Forschung. Sie untersucht, wie im Römischen Reich soziale und auch religiöse Macht mit Hilfe von Licht und Duft realisiert wurden. Kulte im römischen Reich, egal ob privat oder in öffentlichem Rahmen zelebriert, waren zentral für die Gesellschaft, es ging immer darum, die Gemeinschaft zu organisieren und ihren jeweiligen Zusammenhalt zu stärken, dafür war Kunstlicht das wichtigste Instrument. „Licht schützt, Licht visualisiert das Erscheinen der Götter, durch Glanz und Schatten. Und: Licht ist Feuer. Eine Lampe kann für einen brennenden Altar stehen“, sagt Bielfeldt. Wer sich um das Licht versammeln durfte, gehörte zur jeweiligen Gemeinschaft. Wer aber nicht im Licht stand, wer nicht Teil einer Zeremonie war, war gesellschaftlich ausgeschlossen. Der blieb im Dunkeln, ein Schatten.

Ein wichtiger Fokus ihrer archäologischen Forschungsarbeiten gilt dabei den Lampen selbst, deren Machart, deren Zweck und Bedeutung sie zu verstehen versucht. Jedes Detail ist dabei wichtig. Es geht um die Gestalt und Lichtwirkung, um die in den Lampen verwendeten Duftöle genauso wie um die Wärme, die sie ausstrahlen und sogar ihre Geräusche. In Quellen ist oft die Rede, dass Lampen knistern, niesen, husten. „Diese Zeichen waren alle bedeutungshaft. Wie das Wetter morgen wird, das konnte man dem Schnupfen einer Lampe entnehmen.“

Tanzende Schatten: Das Original der Lampe mit dem Fledermausreflektor stammt aus der Villa Arianna in Stabiae. Ruth Bielfeldt erforschte für die Ausstellung „Neues Licht aus Pompeji“ systematisch die Wirkung von römischem Kunstlicht, auch mittels experimenteller Archäologie. Copyright: Neues Licht aus Pompeji. Foto: Johannes Eber

Archäologisch verschaffen vor allem die Lampen selbst einen Zugang zum antiken Alltag, zu seinen Ritualen und der im Ritual ausgelebten Sinnes- und Gedankenwelt. Viele spektakuläre Funde stammen aus den Vesuvstädten Pompeji und Herculaneum, die vom Vulkanausbruch im Jahr 79 n. Chr. im Asche- und Steinregen verschüttet worden waren. Die luxuriösen Bronzelampen sind selbst mit Statuetten ausgestattet. „Ich versuche, alle verfügbaren archäologischen Informationen und Eindrücke von einem Objekt und einem Ort zu nutzen, um am Ende aus diesen Daten eine Wahrnehmungswelt der Menschen damals zu rekonstruieren und diese neu erfahrbar werden zu lassen, zum Beispiel durch Einsatz der Virtual Reality“, erzählt die Archäologin. Diese Erkenntnisse versuche sie dann im Hinblick auf die sozialen Strukturen des religiösen und kulturellen Handelns zu interpretieren.

„Auf einmal waren da zwei große tanzende Schatten an der Wand! Und es war erstaunlich festzustellen, dass das menschliche Auge wie magisch von den Schatten angezogen ist, nicht von den Flammen oder der Figur.“

Auch philosophische Texte, die noch in das kaiserzeitliche Rom ausstrahlten, spielen bei ihren Recherchen eine Rolle. So befragt sie etwa Platon, insbesondere dessen berühmtes Höhlengleichnis, in dem es um eine grausame Schattenprojektion vor Gefangenen in einer Höhle geht. „Warum verwendet Platon den Schatten als Synonym für fehlende Erkenntnis, das interessiert mich. Für mich ist Platon auch archäologisch sehr spannend“, sagt Bielfeldt. „Er liefert Informationen etwa über eine Art von Schattentheater, das wir sonst in den Quellen nicht fassen können, und dessen Reflexe wir in römischen Lampen wiederfinden.“ Literarische Texte enthalten viele versteckte Hinweise auf das gelebte Leben. „Da muss man den Mut haben, verschiedene Disziplinen zusammenzubringen.“

Ein Ort des gestalteten Halbdunkels: Marco Danilo Companaro hat das natürliche Licht in der Casa die Epigrammi Greci kartiert. Copyright: Marco D. Companaro, Lund University

Sie selbst habe historische Nachbildungen römischer Luxuslampen in Amerika zu Forschungszwecken erworben, erzählt Ruth Bielfeldt. Auf die Idee, die Lichtinszenierungen genauer zu untersuchen, kam sie per Zufall. „Ich habe damals mal zuhause am Küchentisch in Cambridge Teelichter auf eine Lampe mit der Figur eines Silens gestellt. Auf einmal waren da zwei große tanzende Schatten an der Wand! Ein beeindruckender Effekt – ausgelöst nur durch zwei Flammen und eine kleine Statuette“, sagt sie. „Und es war erstaunlich festzustellen, dass das menschliche Auge wie magisch von den Schatten angezogen ist, nicht von den Flammen oder der Figur.“

Allein schon als Lichtquellen waren Öllampen wichtig, denn die meisten römischen Häuser waren innen sehr dunkel. In Pompeji ergaben Berechnungen im Inneren vieler fensterloser, dabei farbenfroh ausgemalter Räume Werte von weniger als zehn Lux, das ist dunkler als bei Vollmond. Auch im Atrium, dem überdachten Verteilerhof, wurde es tagsüber nie richtig hell, hier ergeben sich 300 Lux. Zum Vergleich: Draußen in der Sonne liegen die Werte bei 100.000 Lux. „Das römische Haus ist eine Sphäre des bewusst gestalteten Halbdunkels“, sagt Bielfeldt. Die Archäologin zitiert dazu gern den japanischen Schriftsteller Junichiro Tanizaki, der in „Lob des Schattens“ die Schattenlandschaft des japanischen Hauses vor der Einführung des elektrischen Lichtes besingt. „Man will eine Kontrolle über die Naturgewalten ausüben, gezielt Sonne und Regen einlassen.“ Der Weg zu Platon ist da nicht weit. 

Wilde Orgien und verborgene Rituale?

Doch Licht war in der antiken römischen Welt eben immer auch mehr als nur praktische Beleuchtung, es speiste Kunst und Lebenskultur, sagt Bielfeldt. In einem Projekt hat die Archäologin erstmals systematisch das römische Kunstlicht erforscht und die Lichtinszenierungen auch in ihrer umfangreichen Ausstellung „Neues Licht aus Pompeji“ in der Münchner Antikensammlung gezeigt, die als „Nuova Luce da Pompei a Roma“ in die Kapitolinischen Museen nach Rom ging und eine der erfolgreichsten Ausstellungen in Italien im vergangenen Jahr war.

Öllampen, Kandelaber, Lampenständer, figürliche Lampen- und Fackelhalter kamen in römischen Häusern nicht nur beim morgendlichen Hausritual zum Einsatz. Oft brannten Dutzende der Leuchten während verschiedener Feste und sozialer und religiöser Rituale, etwa bei abendlichen Festmahlen, bei denen die Eliten der Stadt oft ganz nebenbei ihre sozialen Verbindungen stärkten und ihre Geschäfte organisierten. 

Auch diese abendlichen Gelage hatten immer auch eine religiöse Dimension. Beim Mahl spendete man den Göttern Wein, insbesondere dem Bacchus (griechisch: Dionysos), unter dessen Schutz die Fruchtbarkeit von Land und Mensch stand. Die Bewohner von Pompeji nutzten dafür meist ihre schönsten Räumlichkeiten. Im großen Gelageraum der Mysterienvilla etwa mit ihrem berühmten gemalten Fries ist noch heute die göttliche Aura des Dionysos zu spüren. Trunken lagert er im Schoß seiner Gefährtin, im Zentrum des Bildes. Früher glaubten Archäologen, dass es sich ob seiner mysteriösen Bilder um einen Geheimraum eines dionysischen Clubs gehandelt haben könnte, in dem man verborgen vor der Außenwelt im Schein der Lichter wilde Orgien und verbotene Rituale feierte. „Diese Vorstellung ist längst überholt“, sagt Bielfeldt. 

Dennoch müssen die stillen Bilder des Frieses, die um weibliche Erotik und die Vorbereitung einer großen Hochzeit kreisen, beim abendlichen Fest besonders geheimnisvoll gewirkt haben. Das warme Licht der Lampen auf hohen Kandelabern, bis zu vierfach heller als heutiges Kerzenlicht, intensivierte das tiefe Rot der Wände und modellierte Einzelfiguren heraus – etwa die von Eroten umgebene, sich frisierende junge Frau rechts des Eingangs, die mit ihrem intensiven Blick sofort die Aufmerksamkeit der eintretenden Betrachter und Betrachterinnen auf sich zieht. 

Die Antike im Blick: Ruth Bielfeldt im Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke. Die LMU-Archäologin untersucht, wie im Römischen Reich soziale und religiöse Macht mithilfe von Licht und Duft inszeniert wurde. Foto: Florian Generotzky

Solche Treffen und Gelage fanden in den Vesuvstädten oder auch im antiken Rom nicht nur im privaten Rahmen in den prächtigen Villen der Mächtigen statt, sondern auch im öffentlichen Raum. In Pompeji etablierten sich im 1. Jahrhundert nach Christus zunehmend Versammlungsorte, an denen Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammenkamen. Dazu gehörten auch verschiedene religiöse Gruppierungen, etwa die Anhänger der Isis. Die Mitglieder trafen sich abends häufig in einem prächtig ausgestatteten Heiligtum, das von der Straße aus nicht einsehbar war. „Der Isis-Tempel und sein Areal war ein Vereinsheim“, sagt Bielfeldt. Und jeder in diesem Verein hatte eine zugewiesene Rolle, vom einfachen Lampenanzünder bis zum Zeremonienmeister. 

Kahlkopf im Vereinsheim

Auch bei ihren Treffen wurde die Hierarchie der Gruppe mithilfe der Beleuchtung inszeniert. In den „Metamorphosen“ des Schriftstellers Apuleius ist von einem Oberpriester, also einer zentralen Figur des Isis-Kults, zu lesen, der eine „brennende, goldene Lampe in Form eines Schiffs präsentiert“, während „große Scharen beiderlei Geschlechts mit Laternen, Fackeln, Kerzen und sonstigem künstlichen Licht dem Kind der Himmelsgestirne huldigten“. In Pompeji selbst ist archäologisch eine Licht-Zeremonie belegt: Auf einem Fresko aus dem Heiligtum sieht man einen kahlgeschorenen Priester, der im weißen Gewand mit nacktem Oberkörper an eine Götterstatue herantritt. Dabei präsentiert er in beiden Händen ein Paar von Kandelabern mit kelchartigem Aufsatz, darin lodern Flammen. Vom Größenunterschied abgesehen sind die gemalten Kandelaber den Lampenständern, die dort entdeckt wurden, auffallend ähnlich. 

Insgesamt fanden Archäologen bislang 59 Lampen im Heiligtum. Wie wichtig solche Versammlungsorte für die Gesellschaft damals waren, zeigt sich auch daran, dass der Isis-Tempel, der beim Erdbeben 62 n. Chr. schwer beschädigt worden war, schon vor 79 n. Chr. bereits wieder komplett aufgebaut war. „Im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden Pompejis, die über Jahre hinweg Ruinen oder Bauruinen blieben,“ sagt Bielfeldt. „Die Reparatur des Isis-Tempels wurde im Namen eines sechsjährigen Jungen durchgeführt. Für die Gemeinde der Isis-Anhänger muss der Kult eine enorme Bedeutung gehabt haben.“ 

Verschiedene Vereine oder Kulte lagen im öffentlichen Raum durchaus im Wettstreit miteinander, die Anhänger der Magna Mater (Kybele) beispielsweise, die einen exotischen Initiationskult unterhielten, zogen häufig nachts durch die Stadt. Welche Kultgemeinschaften nächtliche Lichterprozessionen veranstalteten und wie sie genau abliefen, muss in Pompeji noch erforscht werden. Klar ist, dass Licht auch bei diesen Umzügen ein Kernelement war, das Gemeinschaften zusammenschweißte und religiöse Identität verlieh. „Bei den zuweilen ekstatischen Kultpraktiken ging es nicht mehr ganz so still zu wie bei der Familie vor dem Hausaltar, das war auf ganz andere Art intensiv und emotional.“ 

Hubert Filser 

Ruth Bielfeldt ist Professorin für Klassische Archäologie an der LMU und Co-Sprecherin des Münchner Zentrums für Antike Welten. Vor ihrem Wechsel an die LMU im Jahr 2016 unterrichtete Ruth Bielfeldt am Department of History of Art and Architecture der Harvard University und war 2018/19 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

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