Der Dolmetscher
Oliver Jahraus über „kafkaesk“

Weitere Artikel aus diesem Magazin

Grafik: Lisa Stanzel; Bildelemente: Picture Alliance / akg-images / Archiv K. Wagenbach

Es gibt wissenschaftliche Begriffe, die es in die Alltagswelt geschafft haben. LMU-Wissenschaftler erklären an dieser Stelle solche Ausdrücke – nicht nur mit einer reinen Definition, sondern auch mit einer kurzen Geschichte ihrer Popularität. 

„Dass ein Autor mit seinem Namen ein Adjektiv prägt, ist ungewöhnlich. Damit es dazu kommen kann, braucht es wohl erstens ein extrem bekanntes Werk. Dazu zählen Kafkas Romane, Erzählungen und sogar seine Tagebücher in besonderer Weise. Aber es braucht zweitens eine spezifische und gleichzeitig eingängige Vorstellung von diesem Werk. Sie kann auf einer starken Abstraktion des Erzählten beruhen, aber dennoch zu sehr vereinfachten Urteilen führen, zu Sätzen wie: ,Kafka ist düster‘, ,Kafka ist sinnlos‘, ,Kafka ist absurd‘. ,Kafka zeigt, wie wir angesichts von Mächten, die wir nicht begreifen, einer Bürokratie etwa, immer wieder scheitern‘.

Und dann kommt eben ein solches Adjektiv wie ,kafkaesk‘ zustande, das sich längst vom direkten Bezug auf Kafka gelöst hat und heute in allen möglichen Zusammenhängen auftaucht. Kafkaesk – das benennt eine Erfahrung des Unverständlichen und deswegen Bedrohlichen, des Unlogischen und deswegen Irrationalen, einer Macht, der man unterliegt, die man aber nicht durchschaut und die man vielleicht nicht einmal wahrnehmen kann.  

Aber da müssen wir aufpassen. Das Adjektiv kafkaesk ist ja nicht das Adjektiv zu Kafka, sondern es ist das Adjektiv zum – und das klingt jetzt ein bisschen tautologisch – zum Kafkaesken selbst, also zu dieser Vorstellung, die wir uns von ihm machen. Kafka leistet einer solchen Parallelisierung einigen Vorschub, doch er selbst, sein Leben und sein Werk sind keineswegs kafkaesk. Der kafkaeske Kafka ist ein Mythos. Kafka war kein Mensch, der an der Welt verzweifelte, sie als dunkel und sinnlos empfand. Er war nicht sozial isoliert, im Gegenteil. Die Biografie kann einiges zeigen, aber sie ist nicht der interpretatorische Schlüssel zum Werk.

Und wenn Kafka Fährten auslegt und etwa seine Protagonisten in Der Proceß und Das Schloß ,Josef K.‘ beziehungsweise schlicht ,K.‘ nennt, um nur den simpelsten Trick zu nennen, dürfen wir darauf nicht reinfallen. Die berühmteste Falle, die er aufbaut, ist die Frage nach seinem Vater. In seinem Werk tauchen immer wieder übermächtige Vaterfiguren auf, die ihre Söhne in den Tod und in den Selbstmord treiben. Und wenn er den Brief an den Vater schreibt, einen echten Brief im Übrigen, vom dem er eigentlich wollte, dass sein Vater ihn bekommt, so ist auch der durchzogen von Überhöhungen.

Kafkas Texte provozieren die Lesenden zu interpretieren, und verweigern ihnen gleichzeitig ein eindeutiges Sinnangebot. Gerade dadurch macht er eine – kafkaeske – Welt transparent. Kafka hat dieses Spiel auf die Spitze getrieben. Gerade das macht ihn so modern.“ 

Protokoll: math

Prof. Dr. Oliver Jahraus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Medien und Vizepräsident der für den Bereich Studium der LMU. Er hat mehrere Bücher zum Werk Franz Kafkas veröffentlicht, zuletzt Franz Kafka. 100 Seiten (siehe S. 65).

diesen Artikel teilen:

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Auftakt: Meldungen

Gründen für die Gesellschaft

Wie können Unternehmen arbeiten, die Erfolg nicht nur am Profit messen?

Licht an

Editorial zum Schwerpunkt

Der Lichtfänger

Kristalle als Superlinsen – neue, clevere Materialen, um Energie nachhaltiger zu erzeugen

Das Licht ferner Welten

Gibt es Leben da draußen? Kleinste Signaturen aus der Atmosphäre von Exoplaneten sollen Antwort geben

Die Energie vom Himmel holen

Wie Sonne und andere Regenerative dazu beitragen können, unsere Lebensgrundlagen zu sichern

Eine Archäologie der Sinne

Flammenspektakel, Schattenkino, Hauskulte: Wie im Römischen Reich Macht in Szene gesetzt wurde

Schichtwechsel

Wenn das Licht aus ist und wir schlafen, läuft unser Immunsystem auf Hochtouren

Antworten auf den traurigen Smiley

Was hilft den Schulen aus der Misere? Ein Gespräch über veraltete Strukturen – und Lehrkräfte, die etwas verändern wollen

Regeln für eine bessere Welt

Mit Erneuerung zurück zum Ursprung: Gemeinschaftsentwürfe und Weltdeutungen in spätmittelalterlichen Klöstern

Den Schatz der Sprache heben

Barrieren überwinden: Über die Förderung von Kindern mit Taubheit/Hörbehinderung oder Sprachentwicklungsstörungen

Erwärmung in der Kältekammer

Die Antarktis ist eine Schlüsselregion für das globale Klima. Auch hier wirkt sich der Treibhauseffekt aus

Büchertisch

Die Zukunftsfrage

Warum bleibt die Vermögensungleichheit über Generationen bestehen?

Impressum

Das LMU-Magazin

Licht an – Was die Welt erstrahlen lässt

Nummer 1 / 2024

Echt jetzt – Natürlich, künstlich: Die Grenzen verschwimmen

Nummer 2 / 2023

Zusammenhalten – Vom Wert der Kooperation

Nummer 1 / 2023

Ruf der Wildnis – Was die Natur von uns verlangt

Nummer 2 / 2022

Muster des Fortschritts – Was uns voranbringt

Nummer 1 / 2022

Raus ins Leben – Eine Generation nach dem Lockdown

Nummer 2 / 2021